Klassenkampf in Disneyland

Szene aus Régis Loisels „Micky Maus - Café Zombo“ (© Egmont Ehapa)

Eines Abends versammelten sich im Haus des Comicverlegers Jacques Glénat namhafte französische Autoren und Zeichner der Bande Dessinée, leerten einige Rotweingläser und fanden im angeregten Geplauder zu einem Thema, das sie seitdem nicht wieder losließ. Allesamt, so stellte sich heraus, waren in ihrer Kindheit über Micky Maus & Co. zunächst zu begeisterten Comiclesern und dermaßen angefixt schließlich auch zu passionierten Comicmachern geworden.

Noch im Laufe des Abends gab man sich das feierliche Versprechen, der kleinen Maus aus Dankbarkeit ein Denkmal setzen zu wollen. Und zwar in Form von originellen, unkonventionellen Hommagen, in denen der bekannte Cartoon- und Funny-Stil der Disney-Comics mit der jeweils individuellen Handschrift (zeichnerisch, erzählerisch usw.) der beteiligten Künstler verbunden werden solle.

Nun ja, so lautet jedenfalls die Legende, die der Egmont-Verlag als wichtigster europäischer Lizenznehmer der Disney-Comics, durchaus augenzwinkernd kolportiert. Es geht hier jetzt nicht darum, die hinter dieser schönen Erzählung stehenden handfesten Verwertungsinteressen von Comicproduzenten und -verlegern zu denunzieren und somit den Spielverderber zu geben. Interessanter finde ich vielmehr den Aspekt der heiligenden Authentizitätsbeteuerung innerhalb dieser Legende. Authentizität – z. B. in Form einer originellen Entstehungsgeschichte – ist schließlich ein, wenn nicht gar das Erkennungsmerkmal von Kunst schlechthin, so sagte bzw. schrieb es jedenfalls einmal der Kulturphilosoph Walter Benjamin. Und die auratische Kunsthaftigkeit, das Originelle und letztlich auch das Authentische triefen den hier gleich besprochenen Bänden förmlich aus jeder Pore.

Lewis Trondheim/Nicolas Keramidas: „Mickey’s Craziest Adventures“. Egmont, Berlin 2017. 48 Seiten. 29 Euro

Zunächst muss man jedoch erst einmal festhalten, dass die seit Beginn der 1930er Jahre erscheinenden Comics um Micky, Donald & Co. in ihrer fordistischen, höchst standardisierten und seriellen Produktions- bzw. Erscheinungsweise zunächst einmal nicht den Definitionskriterien entsprachen, die man gemeinhin an die hohe Kunst anzulegen pflegt. Das, was da über Jahrzehnte als Strips für Tageszeitungen, in Heft- und schließlich auch in Buchform veröffentlicht wurde, war (meist) Ergebnis eines streng arbeitsteiligen Prozesses und unterlag einer rigiden Reglementierungspolitik von Seiten des Disney-Konzerns.

Diese schrieb z. B. vor, dass für jeden erscheinenden Comic Walt Disney als dessen alleiniger Schöpfer zu gelten habe, obwohl dieser nie auch nur ein einziges Panel gezeichnet hatte. Als Erfinder der (Haupt-)Figuren und Besitzer der Markenrechte war er jedoch omnipräsent, während die tatsächlichen Texter, Zeichner und Gestalter zunächst ohne Erwähnung bleiben mussten. Disney-Comics galten als standardisierte „Massenzeichenware“, wie es in einem frühen, ideologiekritischen Beitrag zur Comicforschung aus den 1970er Jahren heißt.

Verschiedene Faktoren führten dazu, dass sich diese Bewertung im Laufe der Jahrzehnte änderte. Zwei davon seien hier kurz erwähnt: Ziemlich früh lagerte die Disney-Company die Comicproduktion aus ihrem Kerngeschäft aus und beschränkte sich auf die Einnahmen aus Lizenzen, die sie an amerikanische und europäische Comicverlage verteilte. Dort konnten später bestimmte Zeichner aus den Schatten des Maus-Erfinders und Konzernlenkers treten, allen voran der auf Donald-Duck-Geschichten spezialisierte Carl Barks.

Wegen seines fulminanten Erzähl- wie Zeichenstils, wurde er von aufmerksamen Leser*innen, die seinen Namen aufgrund der benannten Umstände nicht kennen konnten, schlicht als „the good duck artist“ bezeichnet. Man sah schließlich ein, dass die Namensnennung von Comicautor*innen der Marke Disney keinen Schaden hinzufügte, sondern vielmehr den Erzeugnissen ebenjenen (durchaus verkaufsfördernden) Charme des Besonderen und Authentischen hinzufügen konnten, wie er das Kunstfeld seit jeher kennzeichnet.

Speziell für den deutschsprachigen Raum muss noch Erika Fuchs genannt werden, die für den europäischen Disney-Lizenznehmer Egmont (Ehapa) lange Jahre einen Großteil der Übersetzungen ins Deutsche bewerkstelligte. Die über barocke Bildhauerei promovierte Kunsthistorikern machte die Comics auch in bildungsbürgerlichen Milieus dadurch populär, dass sie ihre recht freien Übersetzungen mit allerlei Zitaten von Literaturklassikern, Aphorismen und sonstig geistreichen Sentenzen garnierte. Hier ergab sich eine ganz neue Form der (Mit-)Autorenschaft in Form einer als kunstvoll aufgefassten (und später auch zahlreich gewürdigten) Übersetzungstätigkeit.

Lewis Trondheim/Nicolas Keramidas: „Donald’s Happiest Adventures. Auf der Suche nach dem Glück“.
Egmont, Berlin 2018. 48 Seiten. 29 Euro (nur noch antiquarisch erhältlich)

Es lässt sich nun fragen, ob das hier skizzierte Sichanbahnen von Hoch- und Massenkultur, Einzigartigkeit und serieller Produktion, Künstler-Genie und standardisierter Autorenschaft (usw.) in der nun erscheinenden, von namhaften Comickünstlern (Frauen bzw. Künstlerinnen waren an dem besagten Abend anscheinend nicht zugegen) gestalteten Hommagereihe seinen absoluten Höhe- bzw. Fluchtpunkt findet. Vielleicht passiert aber auch etwas ganz anderes, Unerwartetes, was uns natürlich nur ein Blick in die bisher erschienen Comics verraten kann. (Bzw. in einige von ihnen, weil für alle der Platz hier leider nicht ausreicht.)

Anfangen will ich mit den beiden Bänden „Mickey’s Craziest Adventures“ und „Donald’s Happiest Adventures“ von Lewis Trondheim („bürgerlich“ Laurent Chabosy) und Nicolas Keramidas. Dort wird nämlich die oben schon angesprochene Frage der Authentizität des bzw. im Künstlerischen verhandelt, und das wiederum sehr originell und humorvoll.

Die beiden reduzieren sich in der jeweiligen Einleitung zu den beiden Werken ernsthaft (oder eben auch nicht) zu Herausgebern der verschollen geglaubten Heft-Serien „Mickey’s Quest“ und „Donald’s Quest“ aus den 1960er Jahren, die sie auf einem Trödelmarkt bzw. „einem Verkaufsstand für Magic-Karten und alte Bügeleisen“ entdeckt, erstanden und redigiert haben wollen. Für all die bezüglich dieser Herkunftsgeschichte ungläubigen „Kleingeister“ haben sie den folgenden Ratschlag parat: „Man muss sich seine kindliche Unschuld zu bewahren wissen.“

Die Historisierung von Comics bis zur ungefähren Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die Neuausgaben echter und vermeintlicher Comicklassiker in prachtvollen Ausgaben, auf welche die beiden Comicmacher hier anspielen, ist natürlich alles andere als „unschuldig“, sondern ein knallhart kalkuliertes Geschäft mit der Leidenschaft – und natürlich auch mit der Kaufkraft – von Comicliebhaber*innen und -sammler*innen.

Trondheim und Keramidas verweisen dabei einerseits auf die Grenzen des Nostalgie-Geschäfts im Comicfeld: Wenn nämlich keine „Schätze“ auf den Antiquitätenmärkten oder Verlagsarchiven mehr zu „heben“ sind, weil „Schatzsucher“ bereits alles abgegrast und verwertet haben, könnte man dann nicht einfach welche erfinden und diese im Nachhinein zu verschollen geglaubten Meisterwerken erklären? Andererseits rücken sie den Fokus auf die materielle Beschaffenheit der Comics (beschädigte Originalseiten in minderer Druckqualität, Unvollständigkeit der Sammlung u. ä.) und damit auch auf das nicht immer einfache Verhältnis zwischen den Wünschen nach heiligender Werkauthentizität hier und bequemer Konsumierbarkeit dort.

Tébo: „Die jungen Jahre von Micky“.
Egmont, Berlin 2018. 80 Seiten. 29 Euro

Eine andere Form des kreativen Umgangs mit der Ur- und Frühgeschichte des Disney-Universums liefert Tébo in seiner Hommage „Die jungen Jahre von Micky“. Dort verbeugt sich der Autor zunächst einmal nicht vor der Maus, sondern vielmehr vor einem ihrer wichtigsten Zeichner: Floyd Gottfredson, der fünfundvierzig Jahre lang die Comicstrips für Tageszeitungen zeichnete und mit seiner Verbindung von Komik/Klamauk einerseits und Abenteuer/Action andererseits den Charakter der Micky-Maus-Geschichten bis heute geprägt hat.

Servierte Gottfredson das Komische wie auch das Abenteuerliche in sorgfältig austarierten Dosen, bearbeitet Tébo dieses Feld mit dem Vorschlaghammer der absoluten Übertreibung und macht auf diese Weise auch die besondere Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Elementen sichtbar. Eingebettet werden die Geschichten in eine Rahmenhandlung, in der sich offenbart, dass die Erinnerungen des greisen „Opa Micky“ an seine Jugendjahre stets auf einem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Erfindung balancieren, wobei das Pendel offensichtlich meist zu Letzterem hin ausschlägt. Mag sich Mickys den Geschichten lauschender Enkel „Norbert“ darüber noch so sehr empören, geschieht dies doch nicht nur im Sinne der Unterhaltsamkeit, sondern auch als originelle Selbstbespiegelung.

Nicht weniger unterhaltsam und ebenso voller Anspielungen auf die Frühzeit der Disney-Comics (und Zeichentrickfilme) steckend ist Régis Loisels „Café Zombo“ geraten. Neben den vielen verspielten Verweisen auf Stilistik, Ästhetik und Medialität der frühen Micky-Jahre geht Loisel allerdings auch dahin, wo es wehtut. Die Entstehungszeit der Maus (Ende der 1920er Jahre) war bekanntlich eine Zeit großer sozialer und letztlich auch politischer Verwerfungen. Um die geht es schließlich in dem Band. Ein skrupelloser Geschäftsmann und Bankier mit dem klingenden Namen „Rock Füller“ enteignet nicht nur die Hausbewohner in Mickys Heimatstadt, um auf den ihm übertragenen Grundstücken einen Golfplatz für die städtische Oberschicht zu errichten.

Regis Loisel: „Micky Maus – Café Zombo“.
Egmont, Berlin 2018. 80 Seiten. 29 Euro

Er zwingt sie angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit außerdem dazu, in seinem Unternehmen quasi für lau und zu schlimmsten Bedingungen zu schuften. Beleuchtet wird auch der Anteil von Konsum und Kulturindustrie an der Kaschierung sozialer Antagonismen, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Hier in adornitischer Metaphorisierung: ein Kaffee, der seinen Genießern die Sinne vernebelt und sie zu willenlosen Arbeitsmaschinen bzw. -sklaven macht. „Zombifizierung der Arbeiterschaft“ heißt es passend dazu von Kater Karlo, der an dieser infamen Auspressung von Arbeitskraft natürlich führend beteiligt ist, bis ihm Micky schließlich das Handwerk legt.

Vor genau diesem Hintergrund des in „Café Zombo“ angezeigten Zusammenhangs von Kulturproduktion (inkusive der Produktion von Comics) und sozialer Spaltung sei hier noch der fromme Wunsch der Autoren Trondheim und Keramidas angesprochen, dass die Hommagen „Kinder und Professoren der Philosophie gleichermaßen begeistern“ werden. Hier muss man jedoch zu bedenken geben, dass aus den oben genannten Gründen Disney-Comics seit jeher ein generationen- wie klassenübergreifendes Publikum angesprochen haben.

Etwas pessimistisch ausgedrückt könnte man aber nun eher gegenteilig den Anlass zur Vermutung haben, dass die Hommagen mit ihrer recht eigensinnigen und selbstreflexiven Ästhetik vielmehr auf den Geschmack eines akademischen, distinktionsbewussten Publikums zielen. Daher werden die im Vergleich zu anderen Publikationsformen auch recht preisintensiven Bände gewiss in die Hände so mancher „Professoren-Kinder“ gelangen können, in bildungsfernen und/oder prekären Haushalten werden sie dagegen absehbar nicht bzw. eher kaum anzutreffen sein.

Dabei wäre es zu wünschen, dass man auch dort in den Genuss einer Micky-Maus- oder Donald-Duck-Geschichte von solchen Comicgrößen wie Trondheim, Tébo und Loisel käme. Doch wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg: Liebe Verlagsmenschen von Egmont, liebe Comickünstler (und natürlich auch Künstlerinnen)! Wie wär’s, wenn ihr eure hier begonnene Zusammenarbeit damit krönt, dass ihr sie auch wirklich jedem zugänglich macht? Jenseits exklusiver Sonderausgaben in übergroßen und prachtvollen Hardcovereinbänden, sondern vielmehr im alle Klassenunterschiede nivellierenden Zentrum des Reiches von Disneys Gnaden: dem Lustigen Taschenbuch bzw. den Micky-Maus-Heften. Ganz ernsthaft: Wie wär’s?

Diese Kritik erschien zuerst am 01.11.2018 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.