Drei dunkle, ausgemergelte Gestalten irren durch den Schnee. Ihre langen Schatten werden vom Weiß der Landschaft und von der Schwärze des Waldes förmlich verschluckt. Im Februar 1939, nachdem Francos Truppen Barcelona erobert haben, fliehen viele republikanisch gesinnte Spanier und internationale Brigadisten ins Nachbarland Frankreich. Hier sind die „Ausländer“ und „Kommunisten“ allerdings nicht willkommen. Blutspuren markieren den Grenzübertritt. Zu Tausenden werden die „Unerwünschten“ dieser „Retirada“ („Rückzug“) in sogenannten „Konzentrationslagern“ interniert, wo sie hinter Stacheldraht, Demütigungen und unmenschlichen Schikanen sowie unter Hunger und Krankheiten vor sich hin vegetieren. Als „Scheißspanier“ diffamiert, drangsaliert und geschlagen, fragt einer von ihnen: „Wer sind die Tiere? Wir oder sie?“
Einer, der in diese Klage einstimmt, ist der spanische Zeichner und Maler Josep Bartolí (1910 – 1995). Der ehemalige Polizist Serge mittlerweile ein alter, bettlägeriger Mann, erzählt seinem ebenfalls zeichnenden Enkel Valentin von seinen schockierenden Erlebnissen in einem südfranzösischen, direkt am Meer gelegenen Lager. Für ihn, der in seiner Erinnerung lebt, ist die Vergangenheit gegenwärtiger als die Gegenwart. Zugewandt und zugleich distanziert, berichtet er von Vertreibung, Flucht und einem unmenschlichen Lageralltag. Europa habe das alles zugelassen, konstatiert er ernüchtert. Ausgangspunkt für seine leidvollen Erinnerungen ist das schmerzliche Portrait eines sterbenden Lagerinsassen namens Helios, in dessen aufgerissenem Mund und den vor Entsetzen starren Augen sich alle Qualen verdichten. In feinen Strichen hat Josep Bartolí dieses Bild und das triste, brutale Lagerleben gezeichnet. In Rückblenden wird dieses lebendig, während sich Serge an seine berührende Freundschaft mit dem internierten Maler und dessen Sehnsucht nach seiner schwangeren Verlobten María Valdès erinnert.
Der französische Illustrator und Cartoonist Aurel orientiert sich in seinem Animationsfilm, den er aufgrund der mehr oder weniger suspendierten Bewegungen eher als „gezeichneten Film“ versteht, an den überlieferten Skizzen des Portraitierten. Mit reduzierten, auf die Figuren und markante Details konzentrierten Strichen taucht er ein in eine graue, karge und fast farblose Welt, wobei die einzelnen Bilder meist deutlich voneinander abgesetzt sind. Diese Betonung der Zeichnungen gegenüber der Animation verstärkt zugleich das Motiv der Gefangenschaft. So leben die Flüchtlinge mit ihren geschundenen Körpern in einer quälenden Ungewissheit, der Willkür der Wächter ausgesetzt. Bartolís Werk, hier durch Aurel vermittelt, gibt Zeugnis davon und ist ein Dokument gegen das Vergessen. Dem spanischen Maler gelingt mithilfe von Serge schließlich die Flucht nach Mexiko, wo er Asyl bei Frida Kahlo findet.
Wenn Seelen existieren, dann als schöne Idee, die zu ihrer Verwirklichung wunderbare Menschen braucht, sagt Bartolí einmal sinngemäß. Als Heilmittel gegen seine Angst empfiehlt ihm Frida Kahlo vor allem Farbe. Bartolís Vermächtnis wiederum wird am Schluss des Films in einer schönen Geste von Valentin weitergetragen.
„Josep“ ist auf MUBI und als VoD bei amazon, iTunes oder Google Play zu sehen.
Diese Kritik erschien zuerst am 20.06.2021 auf: filmgazette.de
Josep
Frankreich/Spanien/Belgien 2020 – 80 min.
Regie: Aurel – Drehbuch: Jean-Louis Milesi – Produktion: Serge Lalou, Jordi B. Oliva, Raoul Carbo Perea, Annemie Degryse, Armel Fortun, Etienne Jaxel-Truer, Luciano Lepinay, Tom Martin – Montage: Thomas Belair – Musik: Sílvia Pérez Cruz – Verleih: Les Films d’Ici Méditerranée
Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.