Mythenbilder

Bild aus "Schönheit" (Reprodukt)

Diese Kritik erschien zuerst am 30.04.2014 auf: CulturMag

Huberts und Kerascoëts „Schönheit“ ist ein radikales Märchen, in Jens Harders „Beta …civilisations“ feiert der Fortschritt fröhliche Urständ.

Anfang der 1990er Jahre geisterte im Umfeld der Arbeitsstelle für Graphische Literatur in Hamburg die Vorstellung umher, dass es irgendwann einmal, in ferner Zukunft, auch Comics mit Lesebändchen geben würde. Diese wären dann nicht mehr nur Dünndruckausgaben von Klassikern vorbehalten, sondern eben auch den Bildgeschichten graphischer Literatur. Ein Philologenwunsch – und als ob eine gute oder, wer weiß es schon genau, böse Fee diesen Wunsch abgelauscht hätte, treten nun, bald 25 Jahre später, zwei Comics mit Lesebändchen auf den Markt, die unterschiedlicher nicht sein könnten: „Schönheit“ von Kerascoët und Hubert und „Beta … Civilisation volume 1“ von Jens Harder. Beide Bände stechen mit ihrem Hochformat aus der heute üblichen Graphic Novel heraus.

Hubert (Autor), Kerascoët (Zeichner*innen): „Schönheit“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2014. 152 Seiten. 36 Euro

„Schönheit“ wäre vor zwanzig Jahren – und ist im französischen Original ist es auch heute noch – als dreiteiliges Album erschienen, das französische Hardcover wäre in Deutschland weich geworden. Doch nun hat Reprodukt die schöne, mutige Entscheidung getroffen, Kerascoëts Trilogie als einen großen, gebundenen Band herauszubringen.

„Beta“ ist der zweite Teil einer ebenfalls drei- bzw. vierteiligen Serie, die beim Carlsen Verlag erscheint, und von der allerdings jeder Band schon eine eigene Trilogie fassen könnte. Für die 65 Millionen Jahre, die „Beta“ umspannt, wirkt das Buch immer noch wie ein dünnes Heftchen. Das Lesebändchen von „Schönheit“ ist schwarz wie die Augen und die Haare von Schönheit, der Protagonistin dieses Feenmärchens. Das Lesebändchen von „Beta“ legt sich in elegantem Weinrot zwischen die Seiten und gibt vielleicht eine versteckte Anweisung, mit welcher Haltung und welchem Getränk der Band konsumiert werden sollte. Damit enden die Ähnlichkeiten.

„Schönheit“ ist eine exzellent erzählte, vielschichtige und undeutbare Geschichte, deren Ökonomie, Drastik – es kommen fast alle Protagonisten früher oder später um – und Eleganz, ja Schönheit ebenso beeindrucken darf wie überhaupt der Versuch, das Genre der Fabel und des Märchens wiederzubeleben, ohne eben in Kitsch, Banalität, Betulichkeit oder Prätentiösität zu enden. Im Gegenteil hat Huberts Szenario die Radikalität von Märchen, ihre narrative Explizitheit und Schonungslosigkeit genau analysiert und lässt keinen Zweifel daran, wie zeitgenössisch diese Form in ihrer Geschichts- oder auch Zeitlosigkeit ist.

Die Zeichnungen von Kerascoët setzen auf wunderbar flächige Farben, cartooneske Figuren und schrecken auch nicht vor Panels zurück, in denen einfach nur „Bomm, Krack, Paff! Bim! Ploff“ zu lesen und 12 Sterne zu sehen sind. Denn wie sollte die Schlacht eines tapferen Ritters gegen eine Überzahl von Gegnern auch besser erzählt werden können? Dass im Comic alles Oberfläche ist, wird hier in großen Zügen genossen und zur erzählerischen Voraussetzung, wünscht sich die aschenputtelartige Protagonistin Morue, was so viel wie Stockfisch heißt, doch von einer Fee nur schön zu sein. Und weil die Fee ihre Hässlichkeit nicht fortzaubern kann, beschenkt sie die Heldin immerhin damit, dass sie nur als vollkommene Schönheit gesehen wird – ein Wunsch, der zwei Seiten hat, denn nun wird sie fortan von allen Männern mit allen, durchaus auch gewalttätigen Mitteln verfolgt. Die Panels wechseln, wie sich dies Leser von Calvin und Hobbes nicht schöner wünschen könnten, leichtfüßig zwischen den Perspektiven, ihrer Selbstwahrnehmung (sie sieht ihre Schönheit nicht) und dem Blick der anderen, die ihre nie alternde Oberfläche makelloser Schönheit bewundern.

Jens Harder: „Beta …civilisations volume 1“.
Carlsen, Hamburg 2014. 368 Seiten. 49,90 Euro

„Beta“ erzählt keine Geschichte, es widmet sich der Geschichte der Erde vom Tertiär bis zum Jahre Null, also vom Aussterben der Dinosaurier bis zu dem Jahr, das retroaktiv für die Geburt Christi festgesetzt wurde. In knappen Texten und zahlreichen, aus verschiedensten Quellen entnommenen Bildern wird souverän der Gang durch die Zeiten gewagt. Kokett rechnet Jens Harder im Nachwort aus, dass statistisch auf 2000 Jahre ein Bild kommt – in „Alpha“, dem Vorgänger, waren es sieben Millionen Jahre, „somit passt das gesamte hier vorliegende Buch zwischen zwei ‚Alpha‘-Panels“. Erwartungsgemäß verdichtet sich damit die Erzählung, und das ist vielleicht das frustrierende an der Lektüre: Man weiß, wie die Geschichte ausgeht. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass sich der Zeichner nicht zu schade ist, bei symbolträchtigeren Themen – die Hand, der Krieg, die Stimme, das Rad – mit seinen Bildern und Zitaten munter durch die Zeiten zu springen und immer irgendwie bei der vertrauten Gegenwart anzukommen. Das enttäuscht auch, weil der Berliner Zeichner mit dem dritten Teil der Trilogie „Gamma“ ja in die Zukunft blicken will. Hier fehlt sie. Stattdessen feiert der Fortschritt fröhliche Urständ. Seite für Seite werden seine Erfolge vermeldet. Natürlich nicht ohne die moderne Ergänzung, mit der alle historischen Phänomene zugleich als vorzeitliche erscheinen.

Das ist selten amüsant, weil zum einen die Technik der Montage immer gleich bleibt und zum anderen starke Thesen fehlen, mit denen die Konstellation von Bildern zum Denken anregen könnten. Harder erklärt im Nachwort, er habe ein Essay gezeichnet, leider ist daraus aber ein Bildlexikon geworden. Dessen Faszination versagt ganz, sobald der historische Raum betreten wird. Aus der angenehm weiträumigen, distanzierten und nicht-menschlichen Perspektive von „Alpha“ wird nun eine anthropozentrische und, je näher es dem Jahre Null kommt, auch eurozentrische Perspektive. Harder überdenkt im Wechsel von der Natur- zur Kulturgeschichte seine Mittel nicht und so wird aus beiden eins – und beides fad. Ein Eindruck, der durch die Wiederholung der Farben für die jeweiligen Kapitel – Gold, Silber, Bronze – nicht weggewischt wird. Es fehlen die Feen, die Magie, das Unwahrscheinliche. Nur das Lesebändchen lädt immer wieder dazu ein, den Band aufzublättern und sich über eine menschenleere Doppelseite zu freuen.

Ole Frahm, 1967 geboren, ist Mitbegründer der Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) an der Universität Hamburg, Mitglied der Künstlergruppe LIGNA und des Freien Senderkombinats (FSK) Hamburg und lehrt in Hamburg, Lüneburg und Kiel. Er hat zahlreiche Aufsätze und Rezensionen zum Comic veröffentlicht und mit einer Arbeit über Art Spiegelmans „Maus“ promoviert.

Seite aus „Schönheit“ (Reprodukt)