Auf der Leinwand ist endlich der Rächer aufgetaucht und der kleine Junge im Kino freut sich. Er freut sich so sehr, dass er die Rufe von draußen gar nicht wahrnimmt, das Zittern seiner Mutter am Klavier. Erst als eine Explosion das gesamte Gebäude zum Beben bringt, springt er auf. Gemeinsam mit seinen bewaffneten Eltern tritt er ans Tageslicht und denkt, er sieht nicht recht. Es ist Chaos! Weiße, maskiert oder nicht, die Schwarze mit Waffengewalt aus ihren Wohnungen und Geschäften treiben, ihre Häuser in Brand setzen, die schießen, Menschen an ihren Wagen gebunden durch die Straßen ziehen. Flugzeuge, die aus der Luft angreifen.
Als im Oktober 2019 die Serie „Watchmen“ ihre Premiere feierte, hielt das Publikum während der ersten Episode gleich zwei Mal den Atem an. Erstmals bei der gewaltvollen Eröffnungssequenz. Und ein zweites Mal, als im Abspann klar wurde, dass dieser Gewaltausbruch so tatsächlich stattgefunden hatte. In Tulsa, Oklahoma, 1921. Ein Ereignis in der Geschichte der Vereinigten Staaten, das im Gedächtnis der allgemeinen Öffentlichkeit irgendwie hinten runtergefallen war. Kein Thema in den Schulen, kaum Thema in den Medien oder für größere Gedenkveranstaltungen. Gelegentlich versuchten Filmemacher die Geschehnisse in Dokumentarfilmen aufzubereiten, was allerdings meist schon in der Pitching-Phase scheiterte: Die relevante Zielgruppe mittelalter weißer Zuschauer sei an dem Thema nicht interessiert, hieß es dann laut Los Angeles Times. Selbst die für die Pilotfolge von „Watchmen“ zuständige Regisseurin Nicole Kassell, in einem Interview danach gefragt, wann sie erstmals von den Ereignissen in Tulsa gehört hatte, räumte ein: „Als ich das Drehbuch las.“
Das Tulsa Race Massacre, auch bekannt als Black Wall Street Massacre, ereignete sich am 31. Mai 1921. Alles begann mit dem 19-jährigen Schuhputzer Dick Rowland, der unter Verdacht stand, eine weiße Aufzugführerin belästigt zu haben. Gerüchte streuten sich, denen zufolge Rowland gelyncht werden sollte und im Laufe des Abends fand sich ein weißer Mob vor dem Gefängnis ein. Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken, versammelte sich auch eine Gruppe bewaffneter schwarzer Männer. Nachdem sich ein Schuss gelöst hatte, kam es zu einer Schießerei, infolge derer die Behörden viele Weiße mit weiteren Waffen ausstatteten und zu Hilfssheriffs ernannten. In der Nacht auf den 1. Juni zerstörte dieser Mob 35 Blocks des Bezirks Greenwood, der damals wohlhabendsten schwarzen Nachbarschaft der USA, auch bekannt als Black Wall Street. Schätzungsweise 300 Menschen starben, 10.000 Schwarze wurden obdachlos. Auf den Bildern, die Greenwood nach dem Massaker zeigen, sieht das ehemals florierende Geschäfts- und Wohnviertel aus wie ein Kriegsgebiet.„Es gibt in der Science-Fiction dieses Ding, von dem ich erstmals in Stephen Kings Buch ‚Es‘ gelesen habe“, erklärte Damon Lindelof vor einem Jahr im Interview mit Collider. Er ist Creator der Serie „Watchmen“, verantwortete in der Vergangenheit aber auch Serienhits wie „Lost“ oder „The Leftovers“. „Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen und das Besondere ist, dass die Kinder, nachdem sie Pennywise in den 1950er Jahren besiegen, vollkommen vergessen, dass sie das getan haben. Sie verlassen die Kleinstadt Derry und kehren erst in den 1980ern als Erwachsene zurück. Zwar erinnern sie sich noch aneinander, aber nicht an das, was sie damals getan haben, bevor sie Es ein zweites Mal besiegen müssen.“
Lindelof beschreibt, dass er genau diese Gefühl hatte, als er das Buch „Between the World and Me“ von Ta-Nehisi Coates las, in dem der Autor das Tulsa Race Massacre in einem Absatz erwähnt. Das Gefühl, irgendwann schon einmal von dem Massaker gelesen und es anschließend verdrängt zu haben, weil sein Hirn sich nicht mit der Grausamkeit der Menschen abfinden wollte, wuchs sich zu einer Recherche-Obsession aus und gipfelte schließlich in dem Entschluss, das Massaker zu einem zentralen Plotpoint in „Watchmen“ zu machen. Während der zugrundeliegende Comic von Alan Moore und Dave Gibbons sich an der Angst vor einem nuklearen Holocaust abarbeitet, ersetzt Lindelof dieses kollektive Trauma durch eines der großen Probleme unserer Zeit: struktureller Rassismus, Ungleichheit, eine unverhältnismäßig aufgerüstete und von rassistischem Gedankengut durchsetzte Polizei.
Mit ein wenig Zeitverzögerung hat Lindelof uns so genau jenes Gefühl verpasst, das ihn selbst bei der Lektüre von Coates drückte. Keine Sekunde zu spät. Denn in dieser Hinsicht war das Jahr 2020 ein geradezu absurd prägnantes Beispiel von life imitates art. Die Morde an George Floyd und Breonna Taylor. Dann Donald Trump, der ausgerechnet in Tulsa eine Rally abhalten wollte — und zwar am Wochenende des Juneteenth, an dem in den USA der Abschaffung der Sklaverei gedacht wird.
Nun tut es gewiss Not darauf hinzuweisen, wie sensationell fehlerhaft ein System ist, in dem erst ein weißer Drehbuchautor kommen und den Comic eines weißen Briten aus den 1980er Jahren neu als Serie für ein großes Pay-TV-Network adaptieren muss, damit ein historisches Ereignis wie das Tulsa Race Massacre der Öffentlichkeit neu ins Gedächtnis gerufen wird.
Dennoch verweist dieser Fall einmal mehr auf die Macht des Geschichtenerzählens. Im Wortsinne: Geschichte weitererzählen. Ähnlich wie etwa im Fall der Underground Railroad, die zuerst Colson Whitehead in seinem gleichnamigen Roman fiktionalisierte und den inzwischen Barry Jenkins als Serie adaptiert hat. Jeder, der die Lehren des vergangenen Jahres ernst nimmt und aktiv daran arbeitet seine Bildungslücken zu füllen, weiß inzwischen, was die historische Underground Railroad war. Das Tulsa Race Massacre ist mittlerweile ähnlich präsent. Auch in der Serie „Lovecraft Country“ spielt es eine zentrale Rolle. Zum hundertjährigen Gedenktag erschienen vor allem in den USA endlich die längst überfälligen Dokumentarfilme, der Blindspot-Podcast Tulsa Burning von WNYC arbeitet in sechs Episoden die Hintergründe auf — und seit dem vergangenen Jahr steht das Massaker endlich auch in Oklahoma auf dem Lehrplan.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.06.2021 auf: kino-zeit.de
Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.