Comic-Salon Erlangen 2024: Joann Sfar – Zeichnen und Leben

Auf dem diesjährigen Comic-Salon Erlangen (30.05.–02.06.2024) wird am 31.5. der Max-und-Moritz-Preis vergeben (hier die Nominierungen). Mit dem Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk wird der französische Künstler Joann Sfar ausgezeichnet und überdies mit einer großen Ausstellung geehrt, die bis zum 1. September zu sehen sein wird. Aus diesem Anlass präsentieren wir ein kleines Dossier mit Archiv-Beiträgen von Jonas Engelmann und Karin Krichmayr.

Hakenkreuze im Klassenzimmer – „Die Synagoge“

In seiner Comic-Autobiografie „Die Synagoge“ erzählt Joann Sfar von einer Jugend in Nizza zwischen Neonazis, Kung-Fu und Alltagsantisemitismus – mit frappanten Parallelen zu heute.

Eigentlich gibt es nur einen einzigen Grund, warum Joann Sfar Wachdienst vor der Synagoge schiebt. Wenn er draußen aufpasst, muss er nicht drin sitzen. Der Gottesdienst, zu dem ihn sein gläubiger Vater verdonnert, ödet den 16-Jährigen schon die längste Zeit gewaltig an. Also lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, dem wild zusammengewürfelten Team beizutreten, das von einem Kasten von Mann mit stechend blauen Augen, roter Mähne, dicken Koteletten und Goldketterl im offenen Hemdkragen geleitet wird.

Der Grund dafür, dass die jüdische Gemeinde einen Wachschutz einrichtete, ist ein weniger banaler. Am 3. Oktober 1980 explodierte eine Bombe vor einer Synagoge in Paris, vier Menschen starben, 46 wurden verletzt. Seitdem ging die Angst vor Anschlägen auch in Nizza um, der Heimatstadt des französischen Comiczeichners Joann Sfar, der Jude mit arabischen Wurzeln ist. Ultranationalisten und Rechtsextreme sind in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, der Zeit von Sfars Jugend, auf dem Vormarsch, Neonazis treten noch unverhohlen mit Glatze und Springerstiefeln auf. Offener Antisemitismus ist durch die Bank salonfähig. Lebensbedrohlich sind Bomben, Molotowcocktails und Aggressionen jeder Fasson. Die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen, stellt ein Risiko dar.

Viele Passagen der autobiografischen (auf Französisch bereits 2022 erschienenen) Graphic Novel „Die Synagoge“ von Joann Sfar erinnern frappant an heute. Im Nachhall des Massakers der Hamas am 7. Oktober häuften sich antisemitische Angriffe, insbesondere in Frankreich, die Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen und Schulen wurden verstärkt. Damals wie heute macht sich Judenhass an allen möglichen Stellen der Gesellschaft breit, sind auch Linke fixer Bestandteil der antizionistischen Bewegung.

Blutrünstige Agenda

Im Zuge seiner Wachdiensttätigkeit recherchiert der junge Sfar im rechtsextremen Milieu und beobachtet Prozesse gegen Neonazis. Eines Tages besucht er den Vortrag eines Vertreters einer propalästinensischen Splittergruppe an der juristischen Fakultät der Universität Nizza. Im Grunde sei die Gruppe dafür, „dass man alle Juden ins Meer wirft“, notiert Sfar über die Zeichnungen des charmanten, gut aussehenden Vortragenden, der von den Studierenden angehimmelt wird. „Eine eindeutige blutrünstige Agenda, die die Zuhörer offenbar begeistert.“

Episoden wie diese knüpft Sfar, analog zur oft sprunghaften Erinnerung, lose aneinander. Seine gewohnt krakeligen, bunten Zeichnungen strahlen eine warme Plastizität aus. Trotz der beklemmenden Thematik moralisiert er nicht, bleibt nüchtern in seiner entwaffnenden Direktheit und wird dann am stärksten, wenn er das Humoreske, die Situationskomik hervorkehrt. Mit seinem lockeren Zeichenstil wechselt er so unvermittelt wie mühelos die Zeitebenen, um immer wieder in der Gegenwart haltzumachen.

Bekannt wurde der 1971 geborene Vielschreiber – er hat in den letzten 30 Jahren an die 200 Werke, vorwiegend Comics, veröffentlicht – vor allem durch seine Reihe „Die Katze des Rabbiners“, die im Algier der 1920er-Jahre spielt. Aus Algerien stammt Sfars Vater, der als Jude keinen Widerspruch darin sah, gemeinsam mit den arabischen Nationalisten gegen die französischen Kolonialisten zu kämpfen. Nachdem er von Faschisten verprügelt worden war, wanderte er nach Frankreich aus. Sfars Mutter, eine Musikerin und Holocaustüberlebende aus der Ukraine, starb, als er ein kleines Kind war. Joann Sfar, der sich seit langem für eine Zweistaatenlösung einsetzt, bezeichnet sich daher als halb Aschkenase, halb Sepharde. Auch wenn er versichert, nicht religiös zu sein. „Ich habe mich immer aus allem Jüdischen herausgehalten“, schreibt er. „Das Einzige, woran ich je geglaubt habe, ist Balagan, das Chaos.“

Hakenkreuze im Klassenzimmer

Sein kulturelles Erbe und seine Familiengeschichte flossen immer wieder in sein Werk ein. Die Idee für den Rückblick auf seine Kindheit und Jugend kam ihm während der Corona-Pandemie auf dem Krankenbett, als ihm der Arzt aufgrund seiner schweren Covid-Erkrankung riet: „Sie müssen kämpfen.“ Und wie sich im Lauf des Buches herausstellt, war es für Sfar stets auch eine Frage des Kämpfens, mit Worten und auch mit Fäusten, wie die ständig auftauchenden Gespenster des Antisemitismus in Schach gehalten werden könnten. Auf der Reise in die Vergangenheit begleitet ihn der Geist des französischen Journalisten und Widerstandskämpfers Joseph Kessel, den er schon in jungen Jahren bewunderte.

Eine entscheidende Rolle in Sachen Kampfgeist spielte auch Sfars Vater, ein erfolgreicher Anwalt, der den Sohn gutbürgerlich erzog, im Namen der Gerechtigkeit aber auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. „Mein Vater war der Anwalt vieler Gangster aus Nizza und hatte einige Neonazis ins Gefängnis gebracht. Er wurde wegen seines politischen Engagements bedroht und versteckte Gauner im Kofferraum seines Alfa Romeo bis zum Gericht. Ich sah ständig, wie er sich prügelte. Das faszinierte und traumatisierte mich gleichermaßen“, sagt Sfar.

Antisemitismus war schon früh Teil des Alltags: Als Joann Sfar ein Schulkind war, wurden die Wände seines Klassenzimmers mit Hakenkreuzen beschmiert, weil sein Vater vor Gericht die Auflösung rechtsextremer Splittergruppen erreicht hatte. Sie erhielten Drohanrufe und Särge per Post, schließlich bekam das Vater-Sohn-Duo Begleitschutz von der Polizei. „Es ist die Zeit, als die Wände in Nizza mit ‚Juden in den Ofen‘ beschmiert werden“, schreibt Sfar.

Gefühl der Machtlosigkeit

Die latente „Wahnsinnswut“, die ständig in dem jugendlichen Sfar brodelt, die Suche nach einem Feind, mit dem er sich messen kann, bringt ihn zum Kung-Fu und Krav Maga, dem israelischen Selbstverteidigungskampfsport. So weit, dass er seine hart erübten Techniken auch in der Realität zur Anwendung bringt, ist er aber nicht. Eher plaudert er mit dem Feind, lässt sich nicht provozieren von den Skinheads, kontert mit schlagfertigen Sprüchen und empfindet sogar Sympathien für einen „netten Nazi“ in seinem Sportklub. Das Bedürfnis, sich mit aller Kraft zu wehren, bleibt.

Als es 1984 zu einer Schändung des jüdischen Friedhofs in Nizza kommt und die Polizei zu keinem Ergebnis gelangt, nimmt die Synagogen-Wachschutztruppe eigenmächtig Ermittlungen auf – ohne Erfolg. Eine weitere Erfahrung, die das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Hass verschärft. Auch der Nahostkonflikt ist früh Thema im Hause Sfar. „Seit alle Juden der Welt zu potenziellen Zielscheiben geworden sind, ist das kein Kampf um Emanzipation mehr. Das ist Terrorismus“, zitiert Sfar seinen Vater, der mit ihm von klein auf offen und auf Augenhöhe über Gott und die Welt gesprochen hat. „Juden werden seit Jahrtausenden abgeschlachtet. Was jetzt passiert ist, ist leider das alte Pogrom“, kommentierte Sfar kürzlich den aktuellen Terrorakt der Hamas im Deutschlandfunk.

In seinem Lebensbericht nimmt er auch den Westen in die Pflicht: „Dieser Zorn auf jüdische Menschen ist eine Konstante, ich würde fast sagen, ein Bindeglied der westlichen Gesellschaften“, schreibt Joann Sfar im Nachwort. „Ich habe aufgehört zu kämpfen. Ich erzähle jetzt.“

Joann Sfar: Die Synagoge • Aus dem Französischen von Annika Wisniewski • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 208 Seiten • Hardcover • 30,00 Euro

KARIN KRICHMAYR (zuerst am 10.12.2023 in Der Standard erschienen)

Stimme der Mitmenschlichkeit – „Die Katze des Rabbiners“

Joann Sfar erinnert mit seinem Comic „Die Katze des Rabbiners“ an die sephardischen Juden.

„Es ist nicht meine Aufgabe, die Dinge so darzustellen, wie sie sind“, lässt Joann Sfar in seiner Comicreihe „Die Katze des Rabbiners“ einen an Marc Chagall angelehnten jüdischen Maler sein künstlerisches Konzept auf den Punkt bringen. Ein Konzept, das für den fiktiven Chagall ebenso wie für den 1971 in Nizza geborenen Comiczeichner gilt: Nicht die Welt, wie sie ist, bildet er ab, sondern eine Welt, wie sie sein könnte. In dieser Welt kann eine sprechende Katze darauf bestehen, ihre Bar Mitzvah zu feiern und sich mit dem Rabbi über religiöse und philosophische Fragen streiten. In anderen Geschichten von Sfar tritt ein debiler Golem auf, hat eine verführerische Madragore Liebeskummer, hadert ein sensibler Vampir mit seinem Schicksal und verbünden sich jüdische Gangster mit einer Klezmer-Band gegen die ihnen feindlich gesinnte Umgebung. Die Protagonisten von Sfar, der zunächst Philosophie und danach Kunst studiert und in nur wenigen Jahren ein kaum mehr überschaubares Werk veröffentlicht hat, sind allesamt Außenseiter, beladen mit Komplexen und Problemen, Ängsten und Hoffnungen, sie suchen Liebe, Freundschaft und Geborgenheit in einer feindlichen Welt.

Über all diesen Figuren jedoch thront die Katze des Rabbiners, die Reihe begründete Sfars Ruf, einer der innovativsten französischen Comiczeichner seiner Generation zu sein – und einer der erfolgreichsten: Die Alben haben sich in Frankreich weit über eine Million Mal verkauft und auch die von Sfar selber realisierte Kinoversion fand ein großes Publikum. In Deutschland ist Sfars Werk noch zu entdecken, das sich durch alle Genres und Stile bewegt: zwischen fantastischer Literatur und Philosophie, Geschichts-Comic und surrealen Welten, Kinder-Comics und Vampirgeschichten, Aquarelltönen und kargem Schwarz-Weiß, mit schnellen Strichen gezeichneten Seiten und detailreichen Porträts.

Bild aus „Die Katze des Rabbiners. Sammelband 4“ (Avant-Verlag)

Die jüdisch-algerische Lebenswelt der „Katze des Rabbiners“ in den 1920er-Jahren ist geprägt von Gesprächen über das Wort Gottes und die Erschaffung der Welt, Wissenschaft und Religion, Rassismus und Zionismus. Das sephardische Judentum Algeriens war zu Beginn des 20. Jahrhundert geprägt von der Nachbarschaft zur arabischen Welt und der Auseinandersetzung mit dem jüdisch-französischen Einfluss in der nordafrikanischen Kolonie. Algerische Juden besaßen die französische Staatsbürgerschaft und konnten in den urbanen Zentren ein weitgehend freies religiöses Leben führen, allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz. Erst 1940, durch die deutsche Besetzung Frankreichs, verloren sie unter dem Vichy-Regime ihren sicheren Status und waren Ausgrenzungen und Enteignungen ausgesetzt. Den prekären Status algerischer Juden deutet Sfar mehrfach an, wenn etwa der Rabbi in einem Café aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nicht bedient wird oder die Suche nach einem Jerusalem in der Wüste als Zufluchtsort eine immer größere Bedeutung annimmt. Dennoch bot Algerien Juden im frühen 20. Jahrhundert ein Umfeld für philosophische Zerstreuung. Als brutales Spiegelbild der „Katze des Rabbiners“ hat Sfar die im Zarenreich zur Jahrhundertwende angesiedelte Reihe „Klezmer“ geschaffen. Beide Reihen bilden auch die Erfahrungswelt des Künstlers selbst ab, dessen Familie einerseits aus Nordafrika und andererseits aus der heutigen Ukraine stammt. In „Die Katze des Rabbiners“ treffen die beiden Welten aufeinander: Einer der Protagonisten aus der „Klezmer“-Reihe hat im soeben erschienenen vierten Sammelband der „Katze des Rabbiners“ einen Gastauftritt.

„Die Juden ließen sich derart lange beißen, verfolgen und anbellen, dass sie letztendlich die Katzen den Hunden vorzogen“, weiß die Katze des Rabbiners. Und auch der aktuelle Band ist wieder geprägt von diesem unsicheren Status des jüdischen Lebens, von den Projektionen und Ausgrenzungen, mit denen Juden trotz ihres sicheren juristischen Status zu leben hatten. Der vorliegende Band bündelt zwei in Frankreich als Einzelbände erschienene Episoden, eine blickt zurück auf die Anfänge der sprechenden Katze, auf das Leben ihrer Besitzerin, der Rabbinertochter Zlabya und deren Emanzipation vom Vater. In der zweiten Geschichte „Geht zurück nach Hause!“ werden ganz explizit die Anfeindungen gegenüber den algerischen Juden thematisiert und deren Suche nach einem Ort ohne diskriminierende Zuschreibungen.

Das Heilige Land, so hoffen sie, könnte ein solcher Ort sein, doch bleibt diese Hoffnung in den 1920er-Jahren noch eine reine Imagination. Verschiedene Figuren erzählen von ihren Erlebnissen in Palästina, letztlich entscheiden sie sich, Algerien noch eine Chance zu geben, ein Nebeneinander der Religionen zu leben. In dem Zusammenprall der Kulturen, dem fruchtbaren Streit und in gemeinsamen Feiern verwirklicht sich die Utopie eines anderen Miteinanders, in dem sich aus den unterschiedlichen Stimmen eine gemeinsame erhebt: die Stimme der Mitmenschlichkeit. Joann Sfars Utopie hofft darauf, dass jüdische Stimmen in der Kunst eine Sprache praktizieren, die nicht nur von Juden verstanden wird. Der Künstler selbst arbeitet, wie er einmal erklärte, mit jedem seiner Werke an der Verwirklichung eben dieser Utopie.

Joann Sfar: Die Katze des Rabbiners Band 4 • Aus dem Französischen von Annika Wisniewski • Avant-Verlag, Berlin 2022 • 160 Seiten • 30 Euro

JONAS ENGELMANN (ursprünglich am 20.10.2022 in ND erschienen)

Rettung im Comic – „Klezmer“ und „Chagall in Russland“

In seinen Graphic Novels lässt Joann Sfar verschwundene jüdische Welten auferstehen. Dabei greift er auf Chagall zurück.

„Ich kann euch alle retten, wenn ihr mir Vertrauen schenkt! Ihr müsst einer nach dem anderen in mein Buch eingehen, um vor den Bösewichten in Sicherheit zu sein“, warnt Marc Chagall die anderen Schtetl-Bewohner. „Ohne mein Buch werden sie euch auslöschen. Kommt alle: die Kupplerin, der Rabbi, seine Schüler, Geflügel, Mädchen, Mütter und Väter! Violinisten, Klarinettisten, Beschneider, Klatschweiber und Luftmenschen: Hinein mit euch!“ Sie alle verschwinden im Skizzenbuch Chagalls. Als er alleine einem antisemitischen Mob gegenübersteht, der das Schtetl niederbrennen will, schwingt Chagall sich mit dem Buch unter dem Arm in den Himmel auf und schwebt nach Paris.

Mit dieser Utopie endet Joann Sfars Graphic Novel „Chagall in Russland“ über jüdisches Leben und Überleben in Osteuropa im frühen 20. Jahrhundert. Doch weniger Chagall, an dessen Biografie der Comic nur lose angelehnt ist, sondern vielmehr der 1971 in Nizza geborene jüdische Comiczeichner Joann Sfar selbst scheint diese Utopie mit jedem Baustein seines Werkes wieder und wieder umsetzen zu wollen: die Errettung der vom deutschen Nationalsozialismus zerstörten europäisch-jüdischen Lebenswelt durch ihre Überführung in den Comic.

Fast alle Arbeiten Sfars, die gemeinsam mit Lewis Trondheim entwickelte Fantasy-Parodie-Reihe „Donjon“ einmal ausgeklammert, beschäftigen sich mit Facetten jüdischen Lebens. Neben Chagall hat er jüdische Künstler wie Jules Pascin porträtiert, dem Golem ein eigenes Album gewidmet, Dibbuks und andere Figuren der jüdischen Kulturgeschichte bevölkern seine Comics. Die in Frankreich sehr erfolgreiche und in Deutschland leider untergegangene Kindercomicreihe „Desmodus“ führt ganz nebenbei in die jüdische Kulturgeschichte ein, in „Die Katze des Rabbiners“ hat Sfar sich dem nordafrikanischen Judentum angenähert und in der Comic-Reihe „Klezmer“ dem osteuropäischen.

Die Arbeiten Sfars verbindet, dass sie, ohne sich um realistische Darstellungen zu scheren, die Realitäten jüdischer Lebenswelten dennoch treffend umreißen. Die Schtetl und die osteuropäischen jüdischen Zentren wie Odessa sind bei Sfar bevölkert von „Luftmenschen“, schwebenden Juden, die zweierlei zum Ausdruck bringen: einerseits die antisemitische Realität, die Juden förmlich den Boden unter den Füßen wegzog, andererseits der Versuch, in der Kunst das Schweben und das Nicht-Verwurzelte als positiven Gegenentwurf zu einem solchen Denken zu setzen.

Der reale Marc Chagall hat in seiner Autobiografie die Idee einer heimatlichen Verwurzelung mit einer Krankheit verglichen. Dagegen setzte er die Leichtigkeit seines Aquarellpinsels, die schwebenden Figuren, die sich in ihrer Schwerelosigkeit über den antisemitischen Vorwurf der Heimatlosigkeit von Juden, der fehlenden gesellschaftlichen Verwurzelung, erheben.

In seiner „Klezmer“-Reihe greift Sfar diesen Aspekt des Werkes von Chagall auf, experimentiert mit Aquarellfarben, übernimmt Motive von Chagall und lässt seine Protagonisten, eine Klezmer-Band, sich förmlich vom Boden erheben und schweben.

Wie in Chagall in Russland erzählt Sfar in Klezmer vom alltäglichen Antisemitismus in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die spätere Vernichtung mit vorbereitet hat, von der Entstehung des Zionismus im zaristischen Russland, von Verfolgung und Unterdrückung der Juden und Roma, der Bedeutung von Musik damals wie heute und der zentralen Stellung der Stadt Odessa für die Geschichte des europäischen Judentums.

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, dem damaligen Zarenreich unter Nikolaus II., treffen der jüdische Klarinettist Noe Davidovitsch, dessen Orchester von einer konkurrierenden Klezmerband umgebracht wurde, und die Sängerin Chava, die vor der Enge ihres Heimatdorfes flieht, aufeinander und schlagen sich nach Odessa durch. Gleichzeitig wird der junge Jaacov aus seiner Jeschiwa geworfen, weil er dem Rabbi den Mantel gestohlen hat. Auf seiner Wanderschaft, während der er sich von Gott lossagt, trifft er auf den streng gläubigen Juden Vincenzo, der auch in Chagall in Russland einen Gastauftritt hat. Gemeinsam retten sie den Roma Tchokola, der von Bauern an einem Baum aufgeknüpft wurde, und landen ebenfalls in Odessa. Beide Gruppen sind auf ihrem Weg permanent bedroht durch den Argwohn der bäuerlichen Landbevölkerung, deren Antisemitismus sich oft in tätlichen Angriffen äußert.

Im zweiten Band wird im Wesentlichen eine nächtliche Feier in Odessa beschrieben, während im dritten Band der Reihe die Musiker im Haus der nach Palästina ausgewanderten Scylla schließlich eine „autonome Künstlerrepublik“ gründen und mit dem organisierten Verbrechen von Odessa Bekanntschaft machen.

Man kann beobachten, wie Sfars im Umgang mit den Aquarellfarben immer virtuoser wird, von Album zu Album wird aber nicht nur die Form leichter, sondern auch der Inhalt, der begleitet wird von der Entwicklung der Protagonisten, die sich mehr und mehr von den gesellschaftlichen Zwängen lösen, von den Bildern und Stereotypen, die auf sie als Juden projiziert werden. Mit dem vierten Band hat Sfar ein weiteres Level der Loslösung der Zwänge erprobt.

Er bricht völlig mit den Erwartungen an die Narration im Comic, indem er kaum mehr Comic-Panels zeichnet, sich vielmehr an einem Skizzenbuch orientiert. Diese Auflösung der Comicform – und auch die in diesem vierten Band vollzogene Wendung von Aquarellfarben hin zu Buntstiften – ist nur die konsequente Weiterführung der in „Klezmer“ verhandelten Versuche der Protagonisten, Fluchtwege aus den auf sie projizierten Klischees zu finden. „Ich würde gern die Juden aus meinem Dorf nehmen und sie in meinen Bildern in Sicherheit bringen“, zitiert Sfar Marc Chagall im ersten Band von „Klezmer“.

Das Werk Joann Sfars nimmt diesen verzweifelten Versuch des Künstlers auf, lässt ein jüdisches Leben in seinen Bildern auferstehen, die dabei jedoch immer von einer Trauer darüber durchzogen sind, dass die Welten, die er erschafft, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sind.

Joann Sfar: Chagall in Russland • Avant-Verlag • Berlin 2012 • 128 Seiten • 19,95 Euro
Joann Sfar: Klezmer Bd. 1-5 • Avant-Verlag • Berlin 2007-2017 • 148/128/148/120/128 Seiten • Je 19,95 Euro

JONAS ENGELMANN (ursprünglich am 05.01.2013 in Der Freitag erschienen)