In den Bergen Siziliens, und es gibt viele von ihnen, leben die Bären. Von einem Bären, der seinen Sohn beim Tollen im Wasser und Fangen von Fischen verlor, erzählt Gedeone. Es ist eine Geschichte, die er, sie haben sich zur Nacht in einer Höhle verkrochen, mit seiner kleinen Tochter Almerina einem alten Bären aufbindet.
So geht es hinein in diesen Film, der auf einem Kinderbuch des italienischen Autors Dino Buzzati beruht. Gemacht ist er mit französischem Geld, den alten Bären in der Höhle zur Nacht spricht kein Geringer als die vor kurzem verstorbene Legende Jean-Claude Carrière, Drehbuchautor für Luis Buñuel, Volker Schlöndorff und viele andere mehr. Nach diesem Auftritt als Sprecher ist in der Internet Movie Database noch ein Letzter verzeichnet, da spielt und spricht Carrière angemessenerweise Gott.
Auch der Regisseur dieses Films, Lorenzo Mattotti, 1954 geboren, ist eine Legende, als Zeichner von Comics, als Illustrator, unter anderem für Titelseiten des New Yorker. Bei allem Einfallsreichtum hat Mattotti einen sehr eigenen, meist schnell erkennbaren Stil, der von der Nähe zur expressionistischen bis surrealen Malerei, oft, aber nicht immer, der Liebe zur Farbe, einer Vorliebe für flächige Fülle auf der Basis einfacher, aber deformationsfreudiger Formen geprägt ist. Mit Werken wie „Feuer“ oder seiner mit dem Autor Neil Gaiman verfassten Version von „Hansel and Gretel“ hat er auf dem Feld von Comic und Graphic Novel Ruhm, Ehre, Preise gewonnen.
Womit nicht unbedingt zu rechnen war: dass Mattotti sich mit dem Eintritt ins Rentenalter noch auf den Animationsfilm verlegt. Und dann mit „Das Königreich der Bären“ gleich ein Debüt hinlegt, das hinreißen und beeindrucken kann. Wer Mattotti kennt, fühlt sich in den meist bewusst nicht in Bewegung versetzten sizilianischen Landschaften, ohne Ähnlichkeit zur geografischen Wirklichkeit, zwar nicht in Sizilien, aber sogleich in der Mattotti-Welt ganz zu Hause.Von Detailrealismus keine Spur, stattdessen kühn geschwungene, von starken Farbkontrasten lebende, mit Licht und Schatten geflutete Berge und Täler, wie Platten im Himmel treibende Wolken, als geschwungene Riffelmuster stehende Wälder.
Einfach sieht das nur auf den ersten Blick aus, wie auch die Geschichte von den Bären, die den Kampf mit den Menschen suchen, den diktatorischen Erzherzog besiegen und schließlich die Herrschaft in der Menschenstadt übernehmen, nur auf den ersten Blick schlicht märchenhaft und märchenhaft schlicht ist. Nicht allein die Rahmung mit dem Wechsel des Erzählers vom menschlichen Gedeone zum alten weißen Carrìère-Bären ist reizvoll.
Die Figuren sind nicht bloß märchenhaft schlicht. So einfach, dabei aber oft grandios sie gezeichnet sind wie der spinnengliedrige, zauberspruchgeizige Hof-Magier Salpêtre, so ambivalent ist ihr Tun. Der wiedergefundene, in den Zirkus gezwungene, von den Toten auferstandene Sohn des Bären macht als Trunkenbold das Casino unsicher, das in der Bärenstadt hinter dem Rücken des Königs aufgemacht worden ist.
Bezaubernd ist aber vor allem, wie Mattotti sich alle Freiheiten der Verflüssigung, der Verformbarkeit, der Bildung von Mustern und Ornamenten der Masse nimmt, den Film sich immer wieder zu Bildarien, bei denen man ans Disney-Meisterwerk „Fantasia“ denken kann, aufschwingt. Er lässt Fische fliegen, kullert riesige Schneeballlawinen ins Tal, wechselt ins komplett surreale Register und verleiht seinem Film und der Geschichte einen Rhythmus, der über die bloße Märchenerzählung und Plotspannung hinausgeht. Man kann nur hoffen, dass Mattotti es nicht bei diesem einen Ausflug ins Kino belässt.
Diese Kritik erschien zuerst am 08.04.2021 in der taz.
Königreich der Bären
La fameuse invasion des ours en Sicile
Frankreich/Italien 2019
R: Lorenzo Mattotti – B: Thomas Bidegain, Lorenzo Mattotti, Jean-Luc Fromental – M: René Aubry – S: Sophie Reine – 82 Minuten – FSK: ab 6 – Verleih: Weltkino – DVD-Start: 26.03.2021
Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.