Aus dem Giftschrank gepurzelt

Dürfen nun auch in Deutschland frei herumtorkeln: Romeros Zombies aus "Dawn of the Dead" (Koch Films)

Arte zeigte neulich den Splatter-Klassiker „Day of the Dead“, aber dann auch ganz schnell wieder nicht. Aus der Mediathek wurde sogar der Programmhinweis gestrichen. Dem Sender war wohl nicht bekannt, dass der Film in Deutschland nicht nur indiziert, sondern regelrecht verboten ist. Wie ein ganzes Genre, das in Deutschland dadurch marginalisiert wurde. Um das zu verstehen, bedarf es einer Rückblende ins Zeitalter der Videotheken und der frommen Moralapostel. Und um es zu beenden, bedarf es einer Gesetzesänderung.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 2022 um 00:05 sendete Arte – nichts. Zu diesem Eindruck könnte gelangen, wer seit dem 3. Februar online die Programmübersicht des deutsch-französischen Kultursenders durchsieht.

Doch weit gefehlt, der klassische Sendeschluss ist längst abgeschafft. Insbesondere Horrorfilmfans in Deutschland wissen es besser: Zum besagten Zeitpunkt lief „Day of the Dead“ aus dem Jahr 1985 – eine in diesem Kreis von Filmfreunden nicht eben kleine Sensation, denn George A. Romeros Splatterklassiker ist in Deutschland nicht nur indiziert (eine Maßnahme des hiesigen Jugendschutzes, die den Vertrieb eines Films über die klassische FSK18-Freigabe hinaus erschwert, aber nicht per se untersagt – der berühmte „Verkauf unter dem Ladentisch“), sondern darüber hinaus auch nach Paragraf 131 des Strafgesetzbuches wegen Gewaltdarstellung staatsanwaltschaftlich beschlagnahmt – de facto ein Totalverbot. Denn: Wer einen mit einem solchen Bannfluch belegten Film verbreitet, zugänglich macht oder bewirbt, riskiert dem Gesetzestext nach eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr, realistisch betrachtet aber wohl eher „nur“ eine Geldstrafe.

Hat Arte sich also strafbar gemacht? Das müssen Gremien und Kommissionen entscheiden. Der inkriminierte Film jedenfalls ging über den Äther und wurde bis zum 3. Februar auch in der Mediathek angeboten und zwar tatsächlich, wie von Horrorexperten bestätigt wurde, in der ungeschnittenen Fassung. In einer Pressemitteilung nach der Depublikation des Films sprach der Sender von einem Versehen – und führte den Film dabei lediglich als „indiziert“ an. Keine Rede von der Beschlagnahmung, vielleicht, um sich selbst nicht zu belasten, vielleicht auch, weil diese Praxis abseits gängiger Jugendschutzverfahren nur wenigen bekannt ist und eine Beschlagnahmung, anders als eine Indizierung, in keinem Register publik gemacht wird – eben weil es sich nicht um ein Jugendschutzverfahren handelt, sondern um die Handhabe einer Straftat.

Aus Romeros „Dawn of the Dead“: Keine Zombies weit und breit (Koch Films)

Während die Ausstrahlung eines ab 18 freigegebenen Films zu später Stunde kein Problem darstellt, dürfte ein Fernsehsender einen indizierten Film zwar tatsächlich nicht ausstrahlen, zumindest nicht in einer ungekürzten Fassung. Ein „131er“, wie kundige Filmfreunde entsprechende Filme nennen, stellt allerdings gerade auch strafrechtlich ein anderes Kaliber dar.

Denis Gießler hat für die taz nach den Ursachen dieser kuriosen Programmplanung geforscht. Die Erklärung ist amüsant, aber plausibel: Man habe von dem Film im Netz eine DVD mit dem FSK-Label „ab 18“ gesehen und war daher davon ausgegangen, dass die Indizierung aufgehoben sei. Dies ist rechtlich durchaus möglich: Nach 25 Jahren verfällt eine Indizierung in der Regel automatisch, auch kann der Rechteinhaber einen Antrag auf Streichung stellen. Da die FSK indizierten Filmen eine Freigabe automatisch verweigert, ist die Annahme, dass ein FSK-geprüfter Film wieder „frei“ sei, einerseits naheliegend, andererseits aber auch etwas schlicht recherchiert. Schließlich dürfte auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien telefonisch erreichbar sein.

Die Falle, in die Arte dabei getappt ist: Es gibt von Romeros „Day of the Dead“ keine DVD „ab 18“. Wahrscheinlicher ist, dass die Filmredaktion die DVD des Remakes von 2008 vor sich hatte oder die gleichnamige, sogar ab 16 freigegebene Serie, die im vergangenen Herbst von Syfy ausgestrahlt wurde. Auch hat man schon bemerken können, dass in Deutschland beschlagnahmte Titel bei einschlägigen Internetversandhäusern als Importware aus UK auftauchen. In Großbritannien ist „Day of the Dead“ ab 18 freigegeben. (Nachtrag, 9. Februar: Einige aufmerksame Leser machten mich darauf aufmerksam, dass es von Romeros „Day of the Dead“ tatsächlich – stark gekürzte – deutsche DVD-Ausgaben mit einer Freigabe ab 18 gab.) Kurz: eine Posse, ein geschossener Bock, ein Eiertanz des deutschen Jugendschutzes, der den französischen Teil des Kultursenders wohl ohnehin regelmäßig zur Verzweiflung treiben dürfte. Schwamm drüber?

Einerseits gewiss. Zwar ist „Day of the Dead“ im Ausland längst als Filmklassiker rehabilitiert und George A. Romero als Genre-Auteur etabliert. Seine Filme delektieren sich eben nicht nur vordergründig an Blut und Beuschel, sondern sind problemlos als gallig-kritische Gesellschaftsallegorien erkennbar. Das gilt insbesondere für seine klassische Zombie-Trilogie, deren Abschluss „Day of the Dead“ bildet: Romeros klaustrophobische Apokalypse fokussiert den Belagerungszustand einer zufällig zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft im Angesicht einer äußeren Bedrohung. Nicht so sehr von den tumben Untoten, die draußen an die Tore klopfen, geht der Schrecken aus, sondern von den Spannungen im Innern, davon, dass Unvernunft und Eigennutz die Überwindung der Krise vereiteln. Insbesondere die Ereignisse der letzten zwei Jahre bringen Romeros Filme aufs Neue zum Sprechen. Sie lassen sie hellsichtiger denn je wirken – und mit Blick auf die Klimakrise und deren Herausforderungen ist leider damit zu rechnen, dass Romeros existenzialistische Zombie-Filme als Allegorien aufs Menschsein in der Krise auch in den kommenden Jahrzehnten zeitlos wirken werden.

Der Mob aus Romeros „Night of the Living Dead“ (1968)

Aber andererseits: Das Interesse an „Day of the Dead“ dürfte im Jahr 2022 gering ausfallen – zumindest in Deutschland, wo ein viele Jahrzehnte lang von Ideologen und Sittenwächtern grenz-hysterisch konzipierter Jugendschutz den Horrorfilm marginalisiert hat. Wer Lust auf eine absurde Zeitreise hat, dem sei die ZDF-Reportage „Mama, Papa, Zombie“ aus den frühen Achtzigern als kurioses Artefakt ans Herz gelegt.

Junge Leute mit ihrer Lust am Erproben der eigenen Grenzen lockt man mit einem Film aus den Achtzigern nicht hinterm Ofen hervor: Das Horrorkino der Gegenwart bietet viel deftigere Ware – mit FSK-Flatschen drauf, weil es keinen mehr juckt. Die alten Bluthunde unter den Staatsanwälten, die ihren Paragrafen 131 noch zu schätzen wussten, sind längst in Rente, auch die sich ereifernden Rechtsaußen-Katholiken, die einst Videotheken und Sexshops durchforsteten und die Gerichte auf Trab hielten (wir empfehlen dazu unten eingebundene Doku „Der Pornojäger“) beziehen schon lange keine Rente mehr. Und die alternden Horrorfilmfans haben zumindest die unverzichtbarsten 131er, zu denen „Day of the Dead“ zweifellos gehört, ohnehin seit Jahren als Importware im Filmregal archiviert. Die Zeiten, als man einst streng verbotene Filme wie „Tanz der Teufel“ noch händeringend suchen und sich mit VHS-Kopien der dritten Generation begnügen musste, sind längst vorbei.

Und doch wirft die Arte-Eierei ein Schlaglicht auf ein absurdes Detail hiesiger Justiz. Dass eine liberale Demokratie sich auch weiterhin herausnimmt, Werke der Fiktion zu einer Straftat erklären zu können, ist im Jahr 2022 ein Anachronismus aus einer schwarzweißen BRD-Zeit. Zumal hier nicht nur Jugendlichen der Zugang verunmöglicht werden soll (wie dies beim Instrument der Indizierung der Fall ist), sondern auch Erwachsenen.

Zwar gibt es Ausnahmen: Ein Werk, das Kunstcharakter für sich in Anspruch nehmen kann, darf nicht beschlagnahmt werden. Doch ist bekanntlich nichts so sehr Konjunkturen unterworfen wie das allgemeine Kunstverständnis – insbesondere jener eher kunstferner Institutionen wie die Amtsgerichte. Und inwiefern im einzelnen Kunst vorliegt – dieses Einschätzungsvermögen sollte eine liberale Demokratie seinen erwachsenen Bürgern ohne paternalistische Fürsorge zugestehen.

Wie weit es mit der ästhetischen Kompetenz einschlägig berufener Kunstsachverständiger ist, illustriert eine abwegige Entscheidung aus dem Jahr 2004 (!). Damals beschlagnahmte das Amtsgericht Karlsruhe Herschell Gordon Lewis‘ „Blood Feast“ aus dem Jahr 1963 (!). Die damals für Rumpelkinos gedrehte Billigstproduktion gilt gemeinhin als erster Splatterfilm der Filmgeschichte und hätte deshalb zumindest historischen Wert, der vor juristischen Übergriffen schützen sollte. Die Make-Up-Effekte waren schon damals im Grunde durchsichtig und waren es erst recht im Jahr 2004: Dickflüssiger Erdbeersirup, Schaufensterpuppenarme und günstig beim Metzger abgestaubte Fleischabfälle – ein unbeholfener, in seiner Naivität eher drolliger Film. Jede „Tatort“-Leiche ist dagegen ein den deutschen Wohnzimmern zur besten Sendezeit präsentiertes Meisterwerk der Make-Up-Kunst.

Dennoch liest sich der Befund aus Karlsruhe in seiner schlichten Verkennung der produktionsästhetischen „Qualitäten“ des Films so, als würde ein bestialisches Machwerk jegliche zivilisatorische Errungenschaft des Abendlandes für obsolet erklären und ein blutrünstiges, zur Distanz zum Geschehen nicht befähigtes Publikum zum Äußersten anstacheln. Man meint, das erschütterte Protokoll eines Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch zu lesen. Ich selbst sah den Film um das Jahr 2000 in einem Berliner Programmkino. Die Stimmung im Saal war eher amüsiert – Camp. So unterschiedlich wirkt Kunst.

Im Hinterkopf zu behalten bleibt dabei, dass der Paragraf 131 – anders, als es oft behauptet wird – nicht dem Jugendschutz dient, sondern gewissermaßen dem Tugendschutz. Nicht die zarten Seelen Jugendlicher sollen bewahrt werden, sondern die allgemeine Sittlichkeit. Inwiefern nun dieses 2004 nach kundiger Auffassung offenbar dringend gebotene Quasi-Verbot einer filmhistorischen Obskurität dazu beitrug, Deutschland vor Schlimmerem zu bewahren, und inwiefern die versehentliche Arte-Ausstrahlung von „Day of the Dead“ eine allgemeine Verrohung im Sendegebiet nach sich zogen – diese Fragen müsste die Medienwirkungsforschung noch klären. Das Ergebnis dürfte eindeutig ausfallen. Und schon 2004 durfte man sich fragen, ob Gerichte und Staatsanwälte nichts Besseres zu tun haben, als hektisch vierzig Jahre alte Streifen einzukassieren, deren DVD-Publikum in Deutschland kaum vierstellig sein dürfte. Zu etwa der gleichen Zeit feierte im Übrigen der US-Splatterfilm auch in den deutschen Kinos ein von Jugend- und Tugendschutz weitgehend unbehelligtes Remake-Revival (etwa Zack Snyders „Dawn of the Dead“-Remake). Große Filmkonzerne haben große Rechtsabteilungen – kleine DVD-Labels in der Regel nicht.

Zack Snyders „Dawn of the Dead“ (2004) (Universal)

Filmzensur gibt es bekanntlich nur in China, wo die Posse, dass nun eine zusätzliche Texttafel am Ende von David Finchers „Fight Club“ den Film in seiner subversiven Sprengkraft einhegt, auch in Deutschland nachvollziehbar zu Amüsement und Erregung geführt hat (freilich ohne zu berücksichtigen, dass der deutsche Verleih von Harmony Korines „Springbreakers“ 2013 ähnlich vorging, um eine für die Auswertung günstigere FSK-Freigabe zu erzielen). Und groteske Maßstäbe werden an Film, Literatur und Comics keineswegs in Deutschland, sondern nur in den USA Tennessee angelegt, wo gerade – unter allgemeiner und mehr als berechtigter Empörung – Art Spiegelmans Holocaust-Comic „Maus“ von der Liste der Schullektüre genommen wurde, weil darin Schimpfwörter fallen, der Suizid einer Holocaust-Überlebenden und überdies etwas Nacktheit zu sehen sind. Besser wäre es nach Ansicht des für diese hohle Entscheidung verantwortlichen Gremiums offenbar gewesen, dass beim Holocaust mehr Höflichkeit und Rücksichtnahme geherrscht hätten – oder dass wenigstens in der Darstellung des Holocausts und seiner Folgen für die Überlebenden der Aspekt eines zwischenmenschlich statthaften Miteinanders noch etwas mehr betont würde.

Freilich ähnlich absurd liest sich der Paragraf 131, der „Gewaltdarstellung“ in Deutschland regeln soll. Unter Strafe steht demnach, Gewalt zu verharmlosen, zu verherrlichen oder in einer Weise darzustellen, die die Würde des Menschen (oder seit einer Novelle „menschenähnlicher Wesen“) herabsetzt. Höchst unklar bleibt freilich, welche Maßstäbe dafür angelegt werden. Denn: Verharmlost wird Gewalt in jeder klassischen, aufs sittliche Empfinden Rücksicht nehmenden Vorabend-Westernserie der Marke „Bonanza“: Poff, ein Schuss, jemand hält sich den Bauch, als hätte er schlecht gegessen, fällt um und ist für den weiteren Verlauf der Geschichte schneller vergessen als gestorben.

Auch die Schnittauflagen der FSK, die etwa nötig werden, um im Privatfernsehen einen Film bereits um 22 Uhr ausstrahlen zu dürfen, um auf diese Weise besser Werbung verkaufen zu können, führen dazu, dass Gewalt verharmlost wird. Wenn am Ende von „Star Wars“ Luke Skywalker seine Protonen-Torpedos in einen Lüftungsschacht des Todessterns abfeuert, was in einer Kettenreaktion dessen spektakuläre Explosion zur Folge hat, wird mutmaßlich einigen Millionen Menschen als Mittel zum Zweck das Licht ausgeknipst – unter großem Jubel auf und vor der Leinwand. Wenn das nicht Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt in einem darstellt, was dann? Fahnden die deutschen Behörden bereits nach „Star Wars“-Regisseur George Lucas? Muss etwa auch Bruce Willis, dessen „Stirb langsam“-Filme Gewalt durchaus triumphal zeigen, Deutschland meiden, anderenfalls er schon am Flughafen zur Polizei zitiert würde?

Auch das mit der Würde liest sich wie ein Widerspruch in sich. Man sollte meinen, Gewalt stelle per se einen Eingriff in die Würde des Menschen dar. Von Killern und Vergewaltigern, die bei ihren Opfern vorab dezent um Rücksprache bitten, um gemeinsam eine Lösung fürs eigene Anliegen zu finden, ist wenig bekannt – gewünscht ist nach Paragraf 131 also offenbar eine Darstellung von Gewalt, die deren grauenhafte Folgen und Ausmaß einerseits nicht zeigt, wodurch sie andererseits aber verharmlost würde, was allerdings ebenso nicht passt.

Würdeloses Cornern: Sam Raimis „Evil Dead“ (1981) (Sony Pictures)

Natürlich – es ist eine Abwägungs- und Ermessenssache. Gesetze nicht allzu durchgriffig zu formulieren, hat seinen Sinn. Aber: Solche schwammigen und widersprüchlichen Formulierungen, einst sicher gut gemeint, öffnen zugleich auch willkürlich anmutenden, im Kontext erratisch anmutenden Entscheidungen Tür und Tor. Diese unterliegt zudem noch offensichtlich Zeitgeist-Konjunkturen, deren Folgen allerdings über den momentanen Zeitgeist weit hinaus Wirkung zeigen.

Insbesondere in der frühen Ära Kohl, in die auch der Beginn des Videotheken-Zeitalter fällt, häufen sich die Beschlagnahmungen. Es war die Zeit eines Medienumbruchs, die Panik vor Video, getragen von der Sorge, dass sich hier eine neuartige Medienkultur der allgemeinen Kontrolle entzieht. Wer in den Achtzigern herangewachsen ist, erinnert sich gut an die heute hanebüchenen Gerüchte, die umgingen. Dass es Videos gebe, in denen echte Morde zu sehen sind (wahrscheinlich genährt durch Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust“, der die „Found Footage“-Ästhetik des Horrorfilms der Nullerjahre vorweg nahm und für den sich der Regisseur tatsächlich vor italienischen Gerichten verantworten musste – erst der Auftritt der glaubhaft noch lebenden Darsteller entkräftigte die Vorwürfe). Auch Aussprüche wie „da sieht man alles“ gingen im Videozeitalter auf Pausenhöfen rum. Und das Wort „Gedärm“ lernte ich ebenfalls in diesem Zusammenhang kennen – obwohl meine Nachbarn damals noch Schweine schlachteten, sodass einmal im Jahr ausgeweidete Schweineleichen vor dem Fenster meines Kinderzimmers baumelten, was mich mehr mitnahm als jeder Horrorfilm, den ich als Jugendlicher gesehen habe.

Die damalige Hysterie hat sich längst gelegt. Erstindizierungen und -beschlagnahmungen waren zuletzt eher rar. Sie treffen heute vor allem Filme aus geradezu bestürzend randständigen Produktionszusammenhängen und oft auch erst Jahre nach ihrer Veröffentlichung, weshalb ohnehin fraglich bleibt, welchen Sinn solche Maßnahmen über bloße Prinzipienreiterei hinaus überhaupt noch haben. Aber der Großteil der Beschlagnahmungen aus dem Videozeitalter wirkte viele Jahre nach und zog lange Zeit absurde Folgebeschlagnahmungen nach sich. Inwiefern es etwa 2015 noch dringend geboten war, die deutsche Öffentlichkeit vor einer englischsprachigen DVD-Ausgabe von „Halloween 2“ aus dem Jahr 1981 zu beschützen, bleibt das Geheimnis der Kunstsachverständigen am Amtsgericht Fulda.

Mittlerweile „entschlagnahmt“: Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“ (1974) (Turbine)

Von diesem Bannfluch belegt waren aber eben auch lange Zeit Klassiker ihres Genres, Filme wie „Texas Chainsaw Massacre“, „Tanz der Teufel“, „Dawn of the Dead“ oder eben „Day of the Dead“, die sich auf den Spaß am Gekröse bei weitem nicht reduzieren lassen. Im englischsprachigen Ausland sind sie fester Bestandteil der Popkultur (bis hin zu Zitaten bei den „Simpsons“) und filmhistorisch klar verortet und archiviert – wer sie in Deutschland zeigte und zugänglich machte, musste indessen mit Gefängnis rechnen.

Erst in den letzten Jahren ist hier Bewegung ins Spiel gekommen – 2011 wurde „Texas Chainsaw Massacre“ in Folge eines zeit- und kostenintensiven Prozesses, wenn man so will, „entschlagnahmt“. Zu verdanken war dies dem Label Turbine Medien. Die Leute dort waren nicht die ersten, die sich daran versuchten, aber die hartnäckigsten – und schufen damit erfolgreich einen Präzedenzfall. Das dauerte rund drei Jahre und ein Gutachtengewitter in einer beeindruckenden Herumeierei der Institutionen – wie man hier nachlesen kann.

Seitdem ist eine ganze Reihe vormals berüchtigter 131er aus dem Giftschrank gepurzelt (hier eine Liste). Das Problem dabei: Für jeden einzelnen Film muss langwierig vor Gericht gestritten werden. Das nimmt nur jemand auf sich, der glaubt, von einer Entschlagnahmung finanziell profitieren zu können. Doch von den oben genannten Prestigefilmen einmal abgesehen, ist der Markt für die meisten 131er geradezu einschneidend überschaubar.

Filme wie „Texas Chainsaw Massacre“ und „Dawn of the Dead“ sind seitdem in Deutschland wieder frei auf dem Markt, liefen in Kinos, sind als Blu-ray-Boxen erhältlich und waren zum Teil auch schon im Fernsehen zu sehen. Die meisten Erwachsenen, die bis dahin vor diesen Filmen behütet wurden, können nun relativ problemlos nachprüfen, wovor sie da eigentlich so lange Zeit väterlich beschützt wurden, und werden wohl, sofern sie denn kein ausgeprägtes Faible für Horrorfilme haben, in erster Linie zu der Ansicht kommen, dass all die staatliche Fürsorge von vornherein den Aufwand nicht wert gewesen ist.

Ein diffus formuliertes Gesetz, dessen Anwendung widersprüchlich und oft genug uninformiert wirkende Effekte nach sich zieht, die aber lange Zeit nachwirken und selbst noch im Jahr 2022 dazu führen, dass ein Kultursender wie Arte einen absurden Eiertanz aufführen muss, weil 1990 beim Amtsgericht München einem überforderten Staatsanwalt beim Sichten von „Day of the Dead“ das Frühstück hochgekommen ist – es wird höchste Zeit, den matten Paragrafen 131 StGb selbst in den Giftschrank zu verfrachten.

Dieser Text erschien zuerst am 08.02.2022 in: perlentaucher.de

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.