Mutmacherbuch für Introvertierte

© Loewe Graphix

Gruppenarbeiten in der Schule sind für Debbie ein Graus. In der Mensa sitzt sie lieber allein am Tisch, weil das Gequatsche ihrer Mitschüler sie so gar nicht interessiert. Und Einladungen zu Partys bereiten ihr Seelenqualen, weil sie nicht weiß, wie sie so absagt, dass niemand sauer ist. „Ich liebe Regentage. Die perfekte Zeit für eine Tasse Tee. Der sanfte Klang von Regentropfen scheint mich immer zu entspannen“, heißt es im Buch. „Und das Beste ist: Ich darf zu Hause bleiben und tun, was ich will.“ Auf dem Bild darunter sieht man, wie Debbie sich gemütlich auf dem Sofa rekelt und ein Buch liest. Die Comiczeichnerin Debbie Tung zeichnet das mit feinem schwarzem Strich und aquarellierten Grautönen, die den Dampf des heißen Tees gemütlich in den Raum aufsteigen lassen.

Lesen ist die Lieblingsbeschäftigung von Debbie: Selbst beim ersten Date mit einem Jungen nimmt sie ihr Buch zur Hand und liest. Der Junge greift auch zum Buch, liest ein bisschen und verschwindet dann. Debbie ist so vertieft, dass sie das erst im nächsten Bild bemerkt und dabei sogar enttäuscht aussieht. Doch dann kommt der Junge zurück und bringt Kaffee mit. Zum ersten Mal in diesem Comic kommt der Gedanke, dass auch introvertierte Mädchen ein glückliches Leben führen können. Das Problem: Debbie plagen immer wieder Selbstzweifel. „Du musst mehr Freunde finden. Warum bist du so schüchtern, was stimmt nicht mit dir? Du wirkst so traurig, es ist nicht normal, so wenig zu sprechen.“

Bild aus „Quiet Girl“ (Loewe Graphix)

Im Comic sind die Zweifel in großer Schrift auf die Seite geschrieben und scheinen Debbie zu erdrücken, die klein in der unteren Ecke steht. Ein paar Seiten weiter zeigt Debbie Tung, dass die Selbstzweifel schon früh in der Familie genährt wurden: „Warum gehst Du nicht raus und spielst mit den anderen?“ Und auch von ihrer Lehrerin: „Ihre Noten sind gut, aber sie ist zu still, sie müssen sie auch mal aus ihrer Wohlfühlzone rausholen.“

Und sie zeigt, wie Debbie trotzdem ihren Weg findet, wie sie mit dem Bücher lesenden Jungen eine leise Beziehung führt und ihn schließlich heiratet. Die Bilder dazu sind mit Blumenbuketts, weißem Hochzeitskleid und dem breiten Grinsen aller Anwesenden so kitschig, dass Debbie Tung damit kurz ihren nuancierten Ton verlässt. Allerdings findet sie ihn gleich darauf wieder: Denn dem Glück der Hochzeit folgt der Alltag im Beruf. Debbie fängt in einem hippen, aufstrebenden Büro an, in dem die Kollegen ungeheuer hilfsbereit sind und reizenden Smalltalk machen – und zwar immer, denn Debbie arbeitet in einem Großraumbüro. „Das fühlt sich nicht richtig an, wie zum Teufel soll ich mich so konzentrieren können?“

In kurzen Episoden lotet Debbie Tung die unterschiedlichen Facetten im Leben einer Introvertierten aus. Wenn man das in einem durchliest, wirkt das mitunter etwas eintönig. Wohldosiert gelesen zeigt der Comic „Quiet Girl“ den ebenso leisen wie starken Selbstfindungsprozess eines Mädchens, das nicht dem „kommunikativen Ideal“ entspricht und erst entdecken muss, dass ihr Wunsch nach Ruhe und Zurückgezogenheit kein Makel ist, sondern ihr Bedürfnis.

Die Quintessenz packt Debbie Tung in einen Cartoon, der nur aus zwei Bildern besteht: Auf dem einen zeichnet sie das Cover eines Buches mit dem Titel „Normal sein – ein Ratgeber für Introvertierte“. Auf dem zweiten Bild ist das erste Kapitel aufgeschlagen – der Titel lautet: „Stufe eins: Lass es sein. Du bist perfekt, wie du bist.“

Dieser Text erschien zuerst am 05.02.2022 auf: Deutschlandfunk Kultur

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Debbie Tung: „Quiet Girl“. Aus dem Englischen von Katharina Hartwell. Loewe Graphix, Bindlach 2022. 184 Seiten. 15 Euro