Matthias Lehmann erzählt in seinem Debüt „Parallel“ vom Leben eines schwulen Mannes im Verborgenen. Sein Comic ist in diesem Jahr für den Max und Moritz-Preis und den GINCO-Award nominiert.
„Du bist doch ein Mann? Dann benimm dich gefälligst auch wie einer“, bekommt der Protagonist Karl in Matthias Lehmanns Comic „Parallel“ von seinem Schwiegervater ins Ohr gezischt, nachdem er mit einem Mann auf einer Kneipentoilette gesehen worden ist. „Reiß dich zusammen, sonst prügle ich dich eigenhändig aus der Stadt!“ Gerüchte machen in der Kleinstadt bei Frankfurt die Runde und rücken Karl bedrohlich nahe, der neben seiner Ehe ein geheimes, paralleles Leben führt – wenn auch zu diesem Zeitpunkt noch vor allem in seiner Phantasie und weniger in der Realität. Erste homosexuelle Erfahrungen machte er einige Jahre zuvor während des Zweiten Weltkriegs an der Front, wo er vorsichtige Annäherungen mit seinem Zeltnachbarn Willi geteilt hat. Karls Hochzeit direkt nach Kriegsende wirkt wie eine Flucht vor diesen Erfahrungen, an die er sich noch Jahrzehnte später melancholisch erinnert. Man schreibt die späten Vierziger, der Krieg liegt für die Familie von Karls Ehefrau in weit entfernter Vergangenheit, Gesprächsfetzen beim Hochzeitsfest zeugen von einem in die Zukunft gerichteten Blick: „Das ist so ein schönes Fest … nach all dem Schrecken.“ Doch so sehr der Blick auch nach vorne gerichtet sein mag, das Denken ist noch im Nationalsozialismus verhaftet, wie Karls Schwiegermutter offenbart, als sie ihm zuraunt: „So ein Schwein. Das hätt’s unter Hitler nicht gegeben.“
„Die Schwulenwitze nach der Entnazifizierung bleiben die gleichen“, hat Hubert Fichte in seinem Roman „Hotel Garni“ geschrieben, der die BRD der Jahre 1954 bis 1961 aus der Perspektive eines Außenseiters beleuchtet – „als Halbjude, als Schwuler, als uneheliches Kind, als Vagabund“. In seinen Texten hat Fichte immer wieder auf die Kontinuität der gesellschaftlichen Ausgrenzung wie auch der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller im Nachkriegsdeutschland hingewiesen. Der seit 1871 existierende und 1935 verschärfte Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Männern als „Unzucht“ unter Strafe stellt, hat bis zu Reformen ab 1968 seine Gültigkeit behalten. Begründung: Er sei „nicht typisch nationalsozialistisch“. In der Folge mussten teilweise ehemalige KZ-Insassen ihre Reststrafen in der BRD verbüßen, gleichzeitig wurden bis 1965 etwa 50.000 Homosexuelle nach diesem Paragrafen verurteilt; die vollständige Streichung erfolgte erst im Jahr 1994. Neben diesen juristischen Aspekten war es vor allem der abschätzige Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Homosexuelle, der nach 1945 der gleiche blieb. So war in der Folge der Alltag vieler Schwuler in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten von einem Leben zwischen Illegalität und dem Versuch, nach außen hin eine bürgerliche Fassade zu wahren, geprägt.
Der 1983 in Dresden geborene Zeichner Lehmann konzentriert sich in seiner Annäherung an eine homosexuelle Nachkriegsbiografie auf diese Jahre vor der Schwulenbewegung und der Reform des Paragrafen 175; er zeigt die Versuche und das Scheitern Karls, den gesellschaftlichen Erwartungen – wie auch seinen eigenen – an Männlichkeit und ein bürgerliches Familienleben gerecht zu werden. Und Lehmann zeigt die körperliche Gewalt, die Homosexuelle immer wieder zu spüren bekommen haben. So prügelt der Schwiegervater Karl tatsächlich indirekt aus der Stadt: Er hetzt ein Schlägerkommando auf seine geheime Liebschaft, schmeißt ihn aus der Wohnung seiner Tochter und verhindert Karls weiteren Kontakt zu seinem Sohn. Karl zieht nach Leipzig, wo er von der Familie eines Freundes aufgenommen wird. Er baut sich ein neues Leben auf, versucht sich erneut an einer bürgerlichen Ehe mit Lieselotte, bekommt eine Tochter, Hella, und muss sich schließlich zwischen einem schwulen Leben im Verborgenen und einer Zukunft mit seiner Familie entscheiden, im Westen allerdings, wohin Frau und Tochter in den Sechzigern übersiedeln. In Leipzig hatte Karl zum ersten Mal Vertraute gefunden, ein schwules Paar und seine lesbische Vermieterin Eva, vor denen er sich nicht verstellen muss, und die ihm dazu verhelfen, wenn auch nur zögerlich, über seine Gefühle zu sprechen, über seine Ängste und Sehnsüchte; eine Offenheit, die er als Mann nicht beigebracht bekommen hat. „Wir zwei gehören einfach nicht hierher“, sagt Karl bei einem Spaziergang zu Eva. „Da sind wir aber nun mal“, antwortet sie.
Nach dem Selbstmord eines schwulen Freundes, der die Anfeindungen auf seiner Arbeitsstelle und das Leben im Verborgenen nicht mehr ertragen konnte, entschließt sich Karl, es noch einmal mit dem Konzept Familie zu versuchen und zieht wieder mit Frau und Kind zusammen, erneut in der Nähe von Frankfurt. Doch auch dieser dritte Versuch scheitert. Die schwarz-weißen Aquarellzeichnungen, die mit wenigen Grautönen facettenreiche Stimmungen erzeugen, nehmen sich viel Zeit, die Zerrissenheit Karls einzufangen. Während die Dialoge mit Kollegen, Familie und Bekannten seinen Versuch dokumentieren, nach außen ein normales Leben zu präsentieren, er sich mitunter gar als Frauenheld inszeniert, zeugen die Bilder dagegen von der Einsamkeit Karls. Eine Einsamkeit, die auch eine Distanz zu seiner Umgebung erschafft, was Karl erst im Alter bewusst wird – der Comic ist strukturiert von Episoden, die den gealterten Karl zeigen, der sich an sein Leben erinnert und versucht, sich seiner Tochter zu erklären. „Lügen und Maskeraden schaffen Distanz. Aber das habe ich damals nicht gesehen“, schreibt er in einem Brief an Hella, die schon vor Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Der Brief eröffnet ihm die Möglichkeit der Reflexion über sein eigenes Männlichkeitsbild und er verhilft ihm schließlich auch zu einem Coming-out gegenüber seinem Freund und Kollegen Adam. „Hast du dich schon mal irgendwie fremd gefühlt?“, fragt Karl ihn. „Und alle um dich herum bilden so eine Art Einheit.“ Nach Jahrzehnten hat Karl endlich seinen inneren Zwang abgelegt, sich dieser Einheit anzupassen, und kann sich seiner Umwelt gegenüber öffnen.
Diese Kritik erschien zuerst in: Konkret 1/2022
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Parallel“, hier ein Audio-Interview mit Matthias Lehmann.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt erschien von ihm die Textsammlung „Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen“.