Der Ukrainekrieg in Comic und Karikatur

Im Schatten der schnellen Bilder: Grafische Erzählungen, Comicreportagen und Karikaturen-Anthologien im Spannungsfeld von Aufklärung und Propaganda.

Am 24.02.2022 begann der Einmarsch russischer Truppen in das ukrainische Staatsgebiet, der abgesehen von der Berichterstattung klassischer Medien mit einer regelrechten Bilderflut auf Social Media, Messenger-Diensten und anderen Webangeboten wie z.B. Liveuamap einherging. In Echtzeit konnte sich jeder sowohl von den Zerstörungen und Verheerungen als auch von der zunächst ziemlich dilettantischen Kriegführung des russischen Militärs buchstäblich selbst ein Bild machen. Nachdem aus dem Schock über den Normalitätsbruch – ein demokratisch regiertes Land in der ungefähren geografischen Mitte Europas wird militärisch überfallen – die Realisierung einer neuen, traurigen Normalität geworden war, nahm auch die Rezeption (nicht aber die Produktion!) der schnellen, digitalen Bilder allmählich wieder ab.

Schnell waren damals auch Illustrator*innen, Karikaturist*innen und Comiczeichner*innen dabei, den Schrecken des Kriegs ins Bild zu bannen. Vor allem in Comics und illustrierten Erzählungen dauert der Zeitraum zwischen der Herstellung der Bilder und ihrer Veröffentlichung bekanntlich etwas länger, sodass es weniger deren Aktualität ist, was die Arbeiten so beeindruckend und bedeutend machen kann, sondern vielmehr die medialen Möglichkeiten, das Geschehene und Gesehene sowie den eigenen Standpunkt dazu zu reflektieren und zu dokumentieren.

Die – je nach Selbstverständnis – Künstler*innen bzw. Journalist*innen nahmen sich jedenfalls die Zeit, ihre Eindrücke, die sie entweder selbst vor Ort, über persönliche Gespräche oder eben mediale Berichterstattung gewonnen hatten, grafisch zu verarbeiten und zu einer eigenen Ausdeutung des Krieges, seiner Hintergründe und seiner Folgen zusammenzufügen. Ob sie die (selbst-)reflexiven Potenziale von Comic und Karikatur dann tatsächlich ausschöpfen, ist dann wieder eine andere Frage.

Einer, der sich in dieser Hinsicht schon seit vielen Jahren verdient gemacht hat, ist der italienische Comiczeichner Igort. Bereits in seinen vorangegangenen Reportagen beschäftigte er sich mit der politischen Entwicklung Russlands unter Putin hin zur Autokratie mit imperialen Ansprüchen sowie den historischen Wurzeln des russisch-ukrainischen Konflikts. „Berichte aus der Ukraine“ ist im eigentlichen Sinne keine Reportage, sondern eine Sammlung von Augenzeugenberichten und liefert eine Chronik der russischen Aggression. Sie handelt von Plünderungen – im russischen Jargon „Beschlagnahmungen“ –, der Flucht aus der angegriffenen Heimat, erzwungenen Deportationen, Misshandlung und Folter, der Hinrichtung von Zivilisten, der Tötung russischer Deserteure, Flächenbombardements auf dicht besiedelte Städte, auseinandergerissenen Familien, von Hunger und Durst und Kälte, dem allgegenwärtigen Tod, von Solidarität und Verrat. Der ganz „normale“ Kriegsalltag eben.

Igort bemüht sich sowohl den Opfern als auch den Tätern Namen und Gesichter zu geben und ordnet historische Hintergründe (die Bedeutung des Holodomor in der ukrainischen Erinnerungspolitik, die Rolle der OUN unter Stepan Bandera während des Zweiten Weltkrieges etc.) mit viel Sachkenntnis ein. Was seine Ausführungen so wohltuend differenziert macht, ist seine kritische Auseinandersetzung mit dem ukrainischen Rechtsextremismus und dessen Rolle im Konflikt, ohne allerdings dem russischen Wording von der Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine auf den Leim zu gehen. In formaler und ästhetischer Hinsicht erinnert der Band an Tardis Sachcomics über den Ersten Weltkrieg: über die meisten Seiten erstrecken sich länglich gezogene Panels, die mit kommentierenden Blocktexten kombiniert werden, nur hin und wieder unterbrochen von mehrseitigen reinen Textpassagen.

Während sich Igorts Bericht über einen Zeitraum von hundert Tagen erstreckt, handelt „Im Krieg“ der deutschen, in New York lebenden Illustratorin und Autorin Nora Krug vom ersten Jahr der kriegerischen Auseinandersetzung. Auch Krugs Dokumentation des Kriegsalltags basiert auf Augenzeugenberichten, allerdings beschränkt auf zwei Personen, deren Schilderungen systematisch gegenübergestellt und von der Zeichnerin jeweils visuell kommentiert werden. Es handelt sich dabei um die ukrainische Journalistin „K.“ und den russischen Künstler „D.“, deren Sichtweisen auf den Konflikt sich auf jeder Doppelseite gegenüberstehen. Allerdings nicht antagonistisch, sondern komplementär, denn beide sind sich in der bedingungslosen Ablehnung des russischen Angriffskrieges einig.

Nachdem sich bei „K.“ die erste Schockstarre über den Ausbruch des Krieges gelegt hat, trifft sie die Entscheidung, ihre Kinder zu Freunden ins dänische Exil zu bringen, um dann wieder in die Ukraine zurückzukehren und von dort zu berichten. Die Erfahrung des Verlustes ist in ihren Schilderungen durchgängig präsent: das Ende der relativen Unbeschwertheit vor dem Krieg, der Tod von Freunden und Bekannten sowie die temporäre Trennung von ihrer Familie, die sie angesichts der fortwährenden Ungewissheit als besonders schmerzlich erlebt. Ihre Entscheidung zur Rückkehr in das Kriegsgebiet nötigt ebenso Respekt ab wie „D.s“ Entschluss, seine Heimat Russland angesichts der unhaltbaren inneren und äußeren Umstände dauerhaft zu verlassen und dafür eine längere Trennung von Frau und Kindern in Kauf zu nehmen. Seine Reflexionen sind geprägt von Schuldgefühlen und einer kritischen Haltung zum derzeitigen politischen System in Russland, aber auch von der Notwendigkeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten, sich im politischen Exil eine neue Existenz aufzubauen. Vor der nun in Buchform erfolgten Veröffentlichung erschienen die illustrierten Interviews von Nora Krug in einem wöchentlichen Rhythmus zwischen Februar 2022 und Februar 2023 in „Los Angeles Times“, in Auszügen auch in „Süddeutsche Zeitung“, „L’Espresso“ (Italien), „El Pais“ (Spanien) und „De Volkskrant“ (Niederlande).

Herausgegeben von Jacek Slaski, Redakteur des Berliner Stadtmagazins „tip“, und als Sonderausgabe in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen, versammelt „Bilder gegen den Krieg“ politische Karikaturen und Illustrationen aus dem ukrainischen Künstlerkollektiv Pictoric. Namentlich sind das: Anna Sarvira, Oleksandr Shatokhin, Veronika Kotyk, Jenya Polosina, Anna Ivanenko, Vlada Borovyk-Samolevska, Nataliia Shulga, Daria Filipova, Tania Yakunova und Romana Ruban. Auch in diesem Band werden – diesmal überwiegend in Form von Karikaturen – Kriegseindrücke verarbeitet und die Schrecken des Krieges festgehalten. Es handelt sich durchweg um sehr eindrückliche Zeichnungen, mal im realistischen, mal eher expressiven Stil, mal allegorisch, mal metaphorisch: über Kriegswaisen, alles zermalmende Panzer und verstümmelte Zivilisten, aber auch über die Macht der Hoffnung, die Stärke der angeblich hoffnungslos Unterlegenen sowie die Kunst als Waffe im Krieg der Bilder. Bei aller Selbstreflexivität, schon in der Einleitung wird deutlich, dass es anders als bei Nora Krug nicht um das Nebeneinander verschiedener Sichtweisen (sprich: um Differenz), sondern um etwas anderes geht: „Wir glauben, dass das Format der Illustration, der Symbole und visuellen Metaphern heute das mächtigste und effektivste künstlerische Instrument ist, mit dem sich die ukrainische Position in diesem Krieg vermitteln lässt.“ Dabei stellt sich schon die Frage, ob Propaganda, die sich selbst zur solchen erklärt, überhaupt noch als Propaganda bezeichnet werden sollte.

Ein weiteres ambitioniertes Projekt, den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in Wort und Bild zu fassen, ist die Comicanthologie „Im Osten nichts Neues“, herausgegeben von der Künstlergruppe Moga Mobo: 22 Künstlerinnen aus der Ukraine steuerten comicale Kurzgeschichten bei, um ihre persönliche Sicht auf den Krieg darzulegen. An dem Band überzeugt insbesondere die Vielseitigkeit der Zeichen- und Erzählstile. Titus Ackermann von Moga Mobo hat zudem eine sechsseitige „Kurze Geschichte der Ukraine“ gezeichnet und getextet, die den Beiträgen aus der Ukraine vorausgeht und den Konflikt in der vorgegebenen Kürze historisch einordnet.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.03.2023 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Igort: Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion • Aus dem Italienischen von Myriam Alfano • Reprodukt, Berlin 2023 • 168 Seiten • Softcover • 26,00 Euro

Nora Krug: Im Krieg: Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg • Penguin Random House, München 2024 • 128 Seiten • 28,00 Euro

Pictoric: Bilder gegen den Krieg • Schaltzeit Verlag, Berlin 2024 • 128 Seiten • 25,00 Euro

Moga Mobo #117: Im Osten nichts Neues • Berlin 2023 • 96 Seiten • 6,00 Euro

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Abb. oben © 2022 Pictoric