Gewalt, Repressionen, Einsamkeit

Karls Leben scheint dem Ideal der 50er-Jahre zu entsprechen: Er hat eine schöne Frau und ein Kind, nimmt an rauschenden Partys teil und sein reicher Schwiegervater fördert ihn. Doch dann bricht alles zusammen. Weil Karl tut, was damals nicht einmal gesagt werden darf: Er liebt Männer – und wird dafür verprügelt. Er trifft sich weiter mit Männern und seine Frau trennt sich von ihm. Dafür sorgt auch der Schwiegervater, der um den guten Ruf der Familie besorgt ist.

Solche Konflikte gebe es vielleicht nicht mehr eins zu eins, meint der Leipziger Comic-Autor Matthias Lehmann, aber er konnte sich trotzdem gut damit identifizieren. „Weil das Gefühl, dass man sich als etwas verkauft, was man gar nicht ist, das kenne ich auch und das kennen vielleicht auch viele. Und das war dann mein Einstieg in die Geschichte und da habe ich weiter geforscht.“

Matthias Lehmann: „Parallel“.
Reprodukt, Berlin 2021. 464 Seiten. 29 Euro

Mit flirrenden Pinselstrichen zeichnet Matthias Lehmann die Geschichte von Karl nach. Geradezu verheißungsvoll sieht so die Ankunft von Karl in Leipzig aus, nachdem er aus der westdeutschen Provinz vor seiner alten Familie geflohen ist. Lichtdurchflutet wirken die Hallen des Hauptbahnhofs. Und wenn Karl zusammen mit Trümmerfrauen den Schutt der zerstörten Häuser wegräumt und Ziegel abklopft, dann ist in den Bildern eine Dynamik, als könnte er wirklich etwas Neues anfangen.

Doch Karl wird seine Homosexualität nicht offen leben. Er wird noch eine traditionelle Kleinfamilie gründen und weiter heimlich Sex mit Männern haben. Zu sehr hat er verinnerlicht, dass es falsch ist, Männer zu lieben. Zu oft wenden sich Menschen von ihm ab, wenn herauskommt, dass er schwul ist.

Matthias Lehmann hat für den Comic die Geschichte des Großvaters seiner Freundin rekonstruiert. Dafür hat er lange mit deren Mutter, der Tochter von Karl gesprochen. Die alten Dokumente und Fotos von der Familie und Karls Freunden, die Karls Tochter herausgesucht hat, sind zum Teil im Comic nachgezeichnet.

In kunstvoll verschachtelten Rückblenden erzählt Matthias Lehmann die Geschichte von Karl und seinen Beziehungen. Da ist die Tochter, die sich von ihm abwendet, weil er nie für sie da ist. Seine zweite Frau, die versucht, seine heimlichen Sexabenteuer zu akzeptieren – und dann doch geht, weil sie so gar nicht von ihm wahrgenommen wird. Acht Jahre hat Matthias Lehmann an „Parallel“ gearbeitet. Rund 450 Comicseiten feinster Beziehungsbeobachtungen sind so zusammengekommen.

Matthias Lehmann zeichnet so das tragische Porträt eines Mannes, der nicht leben darf, was ihm entspricht. Der gerade deshalb vor allem um sich selbst kreist und für seine Familie keinerlei Gespür entwickelt. Und der sehr einsam ist, obwohl er immer wieder eine Familie gründet, um nicht einsam zu sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 26.11.2021 auf: MDR Kultur

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus Matthias Lehmanns „Parallel“ (Reprodukt)