Repost vom 25. Januar 2022.
„485 Tage später laufe ich durch tiefen Schnee, da steht er mit nassen Schuhen im Tal. Und während ich endlich stürze, fliegt die Taube über den ‚heißen Stein‘“. In einem dreiseitigen Prolog machen die Journalistin Christine und der Illustrator Markus Färber den Leser*innen bereits klar, dass sie hier keine einfache und eilige Lektüre erwartet. Die Bilder, die sprachlichen wie die visuellen, sind nicht auf Anhieb zugänglich und müssen mitunter erst dechiffriert werden. Die Reise ins „Fürchtetal“ ist keine Spaßveranstaltung, sondern ein beeindruckendes wie bedrückendes Leseerlebnis.
In unterschiedlichen langen Text-Bild-Sequenzen werden wir in die Erinnerungs- und Trauerarbeit der beiden Geschwister eingeführt. „Zunächst ging es überhaupt nicht um eine Veröffentlichung und auch nicht um Traumabewältigung“, so Markus Färber, „wir wollten versuchen, unser Schweigen zu durchbrechen.“ So kam es zu einem kreativen Austausch via E-Mail, in dem Christine ihrem Bruder regelmäßig Texte zuschickte, die dieser illustrierte. „‚Jeden Tag einen Satz‘ war unser Motto.“
Die Sätze und Bilder sind manchmal bedeutungsschwer, symbolisch und andeutungsreich, klingen manchmal in ihrer Intimität aber auch ganz lapidar: „‚Im Schlafanzug am Küchentisch‘ ist alles, was ich heute denken kann.“ So gehen persönliche Erinnerungen und allgemeine Betrachtungen Hand in Hand.
Der grafische Arbeitsprozess hat sich im Laufe der Zusammenarbeit verändert, berichtet Markus Färber: „Die Originalseiten, die es am Ende ins fertige Buch geschafft haben, sind alle mit Tusche auf A3-Skizzenpapier gezeichnet, die am Ende nur noch gescannt und für den Druck aufbereitet wurden. Eine digitale Überarbeitung gab es fast gar nicht. Jeden Tag entstand so eine Sequenz – manchmal auf einer, später auch öfter auf einer Doppelseite. Am Anfang waren es schnelle Fineliner-Zeichnungen auf Druckerpapier. Im Laufe der ersten zwei Wochen habe ich mich dann aber für Tusche entschieden, da dieses Material für mich die größte Flexibilität und spontanen Ausdruck, verdünnt in verschiedenen Grauwerten, ermöglicht. Fineline ist immer schon irgendwie kontrolliert.“
Der Vater, der vor etwa zweieinhalb Jahren Suizid beging, litt an einer Depression, von der ihn auch ein stationärer Klinikaufenthalt nicht langfristig heilen konnte. Paranoide Zustände beherrschten ihn. „Zuerst haben alle noch gelacht über seine Angst, dass wir alle ins Gefängnis kommen.“ Die Geschwister besuchen ihn in der Klinik, finden dort aber bereits nicht mehr den Vater vor, der sie ihr Leben lang begleitet hat: „Er, mit weißen Haar und weißer Haut. Ohne Gürtel. Die Angst hat ihn dünn gemacht. Die Hose hängt zu seiner eigenen Sicherheit.“ Danach war er nicht mehr derselbe.
Die kurzen Abschnitte bilden keine kontinuierliche Erzählung mit kohärenter Handlung, sondern kreisen um den Vater wie der hoffnungslose Versuch, den plötzlichen Selbstmord irgendwann zu begreifen. Durch die Struktur ungleichmäßiger und unzusammenhängender Sequenzen ebenso wie durch wörtliche oder motivische Wiederholungen machen Färber und Färber die Qual zirkulierender Gedankengänge sehr anschaulich. Das Fürchtetal ist noch längst nicht durchschritten…
Ein kurzes Nachwort ordnet die Schilderungen als biografisch ein. „Wir hatten kurz darüber nachgedacht“, so Markus Färber, „in einem ausführlichen Nachwort die echte Geschichte zu erzählen, aber wir haben uns dagegen entschieden. Wir denken, dass der Comic sich als eigenständiges Kunstwerk behaupten muss, das jeder für sich interpretieren darf.“
Christine Färber ist als Journalistin und Autorin tätig. Zusammen mit Susanne Unger hat sie das Buch „Alles auf jetzt“ (Ch. Links, 2017) über Frauen in ihren 30er Jahren geschrieben. Markus Färber lebt als freischaffender Illustrator und Musiker in Leipzig. Sein Debüt „Reprobus“ (2013) wurde von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher 2013 ausgezeichnet, und sein zweites Projekt „Geschichten aus der Zukunft: Meere und Ozeane“, gemeinsam verfasst mit dem Heidelberger Wissenschaftskommunikationsexperten Philipp Schrögel, wurde von Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (hier als PDF frei verfügbar).
In seinem Debüt „Reprobus“ (Rotopol 2012 und zugleich seine Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle) entlieh Färber dem christlichen Geschichtenfundus die Erzählung vom Heiligen Christopherus (hier findet sich eine Online-Analyse von „Reprobus“ durch Julia Ingold). Dieser Comic war lange vergriffen, wird im Frühjahr aber bei Rotopol neu aufgelegt.
Im Titel „Fürchtetal“ kann man Psalm 23,4 („Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“) erahnen und mag sich in der Umschlaggestaltung bestätigt sehen, aber Markus Färber bietet eine ganz naheliegende Erklärung, denn hinter dem fiktiven „Fürchtetal“ steckt das ganz reale Föhrigtal bei Selbitz. Und auf dem Umschlag sehen wir Bruder (rückseitig) und Schwester (vorderseitig), die quasi das Fürchtetal durch den Buchrücken betreten. Wir wissen natürlich, dass für uns Leser*innen der Weg in die Geschichte nur über den Umweg einer anspruchsvollen Lektüre führt.
„Fürchtetal“ ist in dem Kleinverlag Rotopol erschienen. Rotopol hat seinen Sitz in Kassel und beweist immer wieder ein Händchen für sehr individuelle und interessante Titel. Als Kleinverlag fliegt er immer ein wenig unter dem Radar mancher Comic-Freunde, weil der Titelausstoß nicht mit Panini, Carlsen oder Splitter mithalten kann. Die Aufmerksamkeit aber, die zuletzt „Vasja, dein Opa“ von Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer (ICOM-Preis für die beste Verlagsveröffentlichung 2021) und „Stones“ von Nadine Redlich in der Berichterstattung bekommen haben, zeigt aber, wie viel es in dem Programm zu entdecken gibt.
Das Thema, die autobiographische Verarbeitung des rätselhaften Selbstmordes des Vaters, ist vor wenigen Jahren bereits von Steffen Kverneland in „Ein Freitod“ (Avant-Verlag, 2019) mit großem Kritiker-Erfolg angegangen worden. Markus und Christine Färber haben einen ganz anderen, ähnlich artifiziellen, aber noch viel intimeren Zugang gewählt. Ein Geheimtipp für alle Comic-Bestenlisten des Jahres 2021.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.