Rutu Modan ist die derzeit erfolgreichste israelische Comiczeichnerin. Ihre Illustrationen erscheinen weltweit, u. a. in der New York Times, dem New Yorker und Le Monde, und ihre zwei Graphic Novels „Blutspuren“ und „Das Erbe“ wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. „Tunnel“ ist ihre bislang umfangreichte, politischste, aber auch humorvollste Arbeit. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.
Comics waren in meiner Jugend kein sehr populäres Medium in Israel. Ich glaube, Israel ist das einzige Land auf der Welt, wo sich Tim und Struppi, Superman und Asterix überhaupt nicht gut verkauft haben. Ab und an gab es mal einen Comicstrip in einer Zeitschrift für Kinder, ein vereinzeltes „Tim und Struppi“-Buch von einem tapferen Verleger und politische Illustrationen in der Zeitung, die mein Vater gelesen hat – und das war‘s. Ich habe Comics immer geliebt, wenn sie mir begegnet sind, aber das geschah zu selten, als dass ich sie als eigenständiges Medium wahrgenommen hätte. Andererseits schreibe und zeichne ich Geschichten, seit ich mich erinnern kann. Auf meinen Kindergarten-Zeichnungen, als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war, ist meistens Text, den ich meiner Lehrerin diktiert habe. Schon damals war Zeichnen ein Mittel für mich, Geschichten zu erzählen. Meinen ersten Strip habe ich mit fünf Jahren gezeichnet. Meine beste Freundin im Kindergarten hatte mir den Freund weggenommen. Aus Rache zeichnete ich eine Geschichte, wie sie von riesigen Kakerlaken angegriffen wird. Meine ganze Kindheit hindurch habe ich weiter Comics gemacht, aber ohne sie so zu nennen. Erst als ich an der Bezal‘el-Akademie studiert habe, lernte ich Comics als zeitgenössische Kunstform kennen.
In meinem dritten Jahr an der Kunstakademie lernte ich Illustration bei Michel Kishka, einem Einwanderer aus Belgien und zudem einer von Israels wenigen Comickünstlern. Er gab den ersten Comic-Lehrgang in Israel. Ich war eine von sechs Schüler*innen, die diesen Kurs gewählt hatten. In der ersten Stunde brachte er seine wundervolle Comic-Sammlung mit, stapelte die Bücher auf den Tischen und sagte „Lest einfach“. Ich sah zum ersten mal „Watchmen“, Edward Gorey, Robert Crumb und Eileen Crumb, „RAW“ und vieles andere. Es war ein Kulturschock, das fühlte sich an wie sich zu verlieben. Als der Kurs zu Ende ging, hatte ich beschlossen, Comickünstlerin zu werden. Drei Monate später hatte ich bereits einen Strip in einer Lokalzeitung. Nach einigen Jahren mit veröffentlichten Strips und einem Buch mit Comic-Kurzgeschichten, das ich gemeinsam mit dem israelischen Autor Etgar Keret verfasst hatte, gründete ich 1995 Actus – ein unabhängiges Künstlerkollektiv, das gleichzeitig als Verlag agierte. Wir veröffentlichten unsere Comics auf Englisch und vertrieben die Bücher nicht nur in Israel, sondern auch im Ausland, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Weil es in Israel keine eigenen Läden gab, haben wir kulturelle Veranstaltungen mit anderen Independent-Künstlern organisiert: Musiker, Illustratoren und Comickünstler konnten dort ihre Arbeiten präsentieren.
Nach einigen Jahren als Verlegerin, sowohl in Israel als auch international, wurde ich von Drawn & Quarterly gebeten, eine Graphic Novel zu verfassen – für mich natürlich so was wie ein wahr gewordener Traum.Wie relevant war der Comic in Israel, als du in den 1990ern anfingst, erste Geschichten zu veröffentlichen? Gab es ein Netzwerk, auf das du dich stützen konntest? Wie sieht die Szene heute aus?
Anfang der 90er, als ich meine ersten Strips in Zeitungen veröffentlichte, gab es in Israel keine Comicszene. Wir hatten vielleicht drei oder vier professionelle Künstler*innen und es fehlte der lokalen Szene sowohl an Institutionen, die sie unterstützten, als auch an Vertriebswegen (wie Comicläden oder Verlage), die das Genre als Ganzes vorantreiben und ein Publikum aufbauen konnten.
Heutzutage gelten Comics in Israel immer noch als junges Medium, sie sind immer noch eher eine Randerscheinung, doch die Situation ändert sich langsam aber kontinuierlich. Mehr und mehr Verlage „wagen“ es, Comics herauszubringen (hauptsächlich für Kinder) und es gibt in Tel Aviv sogar zwei Comicläden! Es ist noch zu früh, von israelischen Comics als Industrie oder Markt zu sprechen, aber es gibt viele junge Talente (und ich bin stolz, dass viele von ihnen meine Schüler*innen waren), und obwohl die meisten immer noch im Selbstverlag veröffentlichen, gibt es immer mehr Menschen, die sich für das Medium interessieren oder ihm zumindest eine Chance geben.
„Tunnel“ ist erst dein drittes Comicprojekt in Buchlänge, nach „Blutspuren“ und „Das Erbe“. „Blutspuren“ ist 2006 erschienen und erzählt die Geschichte des Taxifahrers Kobi und der Soldatin Numi, die der Tod eines geliebten Menschen zusammenbringt. Wie kam es damals zu diesem Projekt?
„Blutspuren“ basierte auf dem wundervollen Dokumentarfilm „No. 17“ (2003) von David Ofek. Die Zeit Anfang der 2000er war schwierig in Israel. Das Oslo-Abkommen war gescheitert und Selbstmordanschläge waren an der Tagesordnung. In dem Film „No. 17“ geht es um einen Terroranschlag, bei dem 17 Menschen getötet wurden. Einer der Körper wurde so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass das Opfer nicht identifiziert werden konnte. Der Regisseur versucht in dem Film, hinter die Identität des Opfers zu kommen. Als ich den Film gesehen habe, faszinierte mich am meisten, dass niemand Anspruch auf den Leichnam erhob, dass es also offenbar jemand war, dessen Verschwinden niemand bemerkt hatte. Ich fragte mich, welche Umstände wohl zu einer solch traurigen Situation führen konnten.
Zwei Jahre davor war mein Vater gestorben. Er starb zwar eines natürlichen Todes, aber es fühlte sich nicht „natürlich“ an, überhaupt nicht. Ich nahm das vielmehr als gewaltsames, unerwartetes Ereignis wahr, nicht viel anders als ein Terroranschlag, ein unvorstellbarer, nicht zu begreifender Akt, der meinen Vater aus dem Leben riss.Vor dem Hintergrund der Terroranschläge konnte ich mit dem Thema der fehlenden Person meine Gefühle über den Tod meines Vaters ausdrücken und gleichzeitig meine Sicht der extremen Zustände in Israel darlegen. Ich wollte die menschliche Seite einer Situation aufzeigen, die den meisten Menschen nur aus Zeitungen und der Politik bekannt ist, wie diese Realität das Leben ganz normaler Menschen beeinflusst. Es ist zwar bereits ein Klischee geworden, aber das Politische ist immer auch etwas sehr Privates.
„Blutspuren“, „Das Erbe und nun „Tunnel“ handeln alle von Generationskonflikten, von Geheimnissen, die Eltern vor ihren Kindern haben und von Vermächtnissen. Was interessiert dich als Geschichtenerzählerin an dieser Art von Familiendynamiken?
Ich glaube, es war Aristoteles, der sagte: Zwei Männer, die miteinander kämpfen; das ist keine Geschichte, aber zwei kämpfende Brüder umso mehr. Familienbeziehungen sind immer kompliziert. Selbst in den besten Familien gibt es Wut, Frustrationen, Missverständnisse, Enttäuschungen. Diese Gefühle werden durch die Nähe zueinander, die Liebe und die gemeinsame Geschichte nur verstärkt.
Die Familie, selbst wenn sie durch Abwesenheit glänzt (gerade dann), macht uns zu dem, was wir sind, sie ist der Schlüssel zu unserer Identität. In der israelischen Kultur ist die Kernfamilie immer noch eine sehr starke Institution und es ist (bei allen Problemen, die das mit sich bringt) immer noch üblich, von der jüdischen Nation als „einer großen Familie“ zu sprechen. All das macht die Familie zum perfekten Labor, nationale und private Themen zu untersuchen.
Als Comickünstlerin hast du einen sehr eigenwilligen Ansatz, der irgendwo zwischen Comic und Filmemachen steht: Du arbeitest mit Schauspielern und inszenierst deine Comicstory erst anhand von Fotografien. Könntest du uns ein bisschen über diesen faszinierenden Arbeitsprozess verraten?Die Methode, mit Schauspielern zu arbeiten, hat sich aus meinem Erzählstil entwickelt. Meine Geschichten vermeiden bewusst, Gedanken oder Gefühle im Text auszudrücken. Ich vermittle die Innenwelt meiner Figuren lieber durch ihr Verhalten. Um das zu erreichen, muss ich viel mit Körpersprache und einer großen, möglichst akkuraten Palette von Gesichtsausdrücken arbeiten, bei der jede Figur ihre eigene Gesichts- und Körpersprache hat.
Für „Blutspuren“ habe ich Freunde gebeten, mir Modell zu stehen. Eine meiner Freundinnen ist Berufsschauspielerin. Durch sie habe ich die Fähigkeit von Schauspielern entdeckt, zu der Person zu werden, die sie darstellen. Wenn ein normaler Mensch einen 90jährigen darstellt und ich ihn bitte, ein paar Schritte zu gehen, geht er wie immer. Ein Schauspieler aber geht wie ein sehr alter Mann. Schauspieler lernen, ihre Innenwelt immer ein wenig übertrieben durch Gesten auszudrücken. Geradezu perfekt für eine Comiczeichnerin! Als ich das erkannte, heuerte ich für mein nächstes Buch „Das Erbe“ professionelle Schauspieler an.
Nachdem ich das Skript fertig habe, skizziere ich die ganze Geschichte grob. Dann gebe ich den Schauspielern Anweisungen und fotografiere sie, Bild für Bild, nach meinem Storyboard. Die Schauspieler haben dabei die Freiheit, ihre Figuren zu interpretieren und ich bin für ihren Einfluss offen, ja, ich würde eventuell sogar die Geschichte abändern. Nachdem dies abgeschlossen ist, fotografiere ich die Orte der Handlung. Dann zeichne ich die Comics und integriere die Schauspieler an den entsprechenden Stellen. Durch die Farben und meinen Zeichenstil erschaffe ich so eine geschlossene Realität.
„Tunnel“ ist deine bislang umfangreichste Arbeit, sowohl was die Seitenzahl anbelangt als auch die Größe deines Figurenensembles. Woher kam die Idee zu dem Buch und wie lange hast du daran gearbeitet?Die Idee zu dem Buch entstand durch eine wahre Geschichte. Als ich in meinen Zwanzigern war, hatte ich einen Freund, der in seiner Schulzeit tatsächlich mit seinem Vater nach der Bundeslade gegraben hat. Das haben sie sieben (!) Jahre lang gemacht, obwohl es illegal war; bis die erste Intifada begann und es zu gefährlich wurde. Wenn er mir damals davon erzählt hat (wenige Jahre, nachdem sie aufgehört hatten), war es für mich nur eine lustige, interessante Anekdote. Aber vor ein paar Jahren hat mich etwas daran erinnert und mir fiel auf, wie seltsam es war, dass ein weltlicher, intelligenter und zumindest normal erscheinender Mensch wie der Vater meines Freundes (den ich ebenfalls kannte) sich auf die Jagd nach einer fragwürdigen Legende machte und seinen Sohn auch noch mit hineinzog. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Geschichte auf mich wartete, die all meine Lieblingsthemen beinhaltete: Familie, Abenteuer und Geschichte. Es gab einige Herausforderungen, abgesehen von der politischen Komponente.
In meinen vorangegangenen Büchern waren die Geschichten kleiner. Es gab etwa drei bis fünf Hauptfiguren und alle anderen waren wie Statisten in einem Film: mehr Karikaturen als richtige Menschen, die kurz auftauchten und wieder verschwanden. In „Tunnel“ gibt es zwanzig Figuren und jede spielt eine wichtige Rolle. Es gibt einige Szenen, in denen viele der Figuren handeln und reden und das war sowohl schwierig zu schreiben und inszenieren als auch zu zeichnen. Darüberhinaus musste ich zum ersten Mal Figuren beschreiben, die nichts mit mir zu tun haben, die einen völlig anderen kulturellen und sozialen Hintergrund und sehr abweichende Meinungen haben. Die palästinensischen Brüder natürlich, aber auch die Siedler. Bei diesen Figuren musste ich aufpassen, nicht in Klischees und Stereotypen abzugleiten, sie sollten wie richtige Menschen mit Schwächen und Fehlern wirken, über die man auch mal lachen kann. Ich hoffe sehr, dass es mir gelungen ist, aber zu beurteilen vermag ich das nicht.
Das Zeichnen hat mir ebenfalls einiges abverlangt. Eine große Herausforderung war zum Beispiel, die Dunkelheit zu kolorieren. Es gibt viele Szenen in dem Buch, die entweder nachts oder unter der Erde spielen. Die Dunkelheit zu gestalten, ohne dass man nichts mehr erkennt, war wiederholt ein Problem. Eine Szene im Dunkeln ist kein Problem, aber wenn ein Drittel des Buches dunkel bleibt, kann das den Leser leicht verstören. Es war wie ein Spiel: Ich musste so viele Farbpaletten wie möglich auftun, mit denen man alle erdenklichen Arten von Dunkelheit zeigen konnte.
In „Blutspuren“ hast du bereits von den Folgen des Nahost-Konflikts für die Menschen in Israel erzählt. In „Tunnel“ wirst du nun aber noch politischer. In deinem Figurenensemble hast du zahlreiche Protagonisten des israelisch-palästinensischen Zwists versammelt: religiöse Siedler, die israelische Armee, palästinensische Schmuggler, IS-Terroristen und einfach Bürger, die zwischen die Fronten geraten…Die wichtigste Herausforderung bei diesem Buch war es, mit den politischen Themen, die sich aus der Geschichte ergaben, so umzugehen, dass dabei meine eigene Haltung deutlich wird. Ich wollte keinesfalls behaupten zu wissen, wie man den Konflikt zwischen Israel und Palästina löst, weil es meiner Meinung nach etwas komplizierter ist als „die Bösen gegen die Heiligen“. Andererseits wollte ich auch keine lauwarme Botschaft à la „Alle haben recht, schließen wir Frieden“, denn ich glaube, dass die Situation wirklich schlimm und sehr schwer zu lösen ist und auch wenn es Gut und Böse gibt, sind sie doch nicht so eindeutig zuzuordnen. Ich wollte die politische Realität abbilden, wie ich sie wahrnehme, die Absurdität der Situation und die Menschen, die darin gefangen sind, jeder mit seinen eigenen Ansichten und Interessen – private wie nationale. Dazu musste ich meine eigenen Ansichten „vergessen“ und versuchen, mich mit jeder Figur zu identifizieren, dabei aber nicht die Perspektive des Beobachters zu verlassen: jemand, der die Dinge belegt, aber nicht beurteilt.
„Tunnel“ ist sicherlich auch eine deiner witzigsten Erzählungen. Das Erzähltempo, die cleveren Dialoge und die unzähligen Verwicklungen erinnern an Screwball-Comedy-Klassiker wie „Leoparden küsst man nicht“ oder „Sein Mädchen für alle Fälle“. Hattest du Vorbilder in Sachen Humor? Wie wichtig ist Lachen für dich als Erzählerin?
Trotz der gewaltigen Entwicklung, die Comics als literarisches und künstlerisches Genre in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht haben, assoziiert man sie immer noch mit Humor. Das liegt an ihrer Geschichte und ist in der Definition als Medium begründet, das gleichzeitig mit zwei Stimmen spricht: Bild und Text. Diese beiden Parallelachsen sind nicht nur für den Humor zuständig, sondern auch für die grundsätzliche ironische Natur des Mediums. Ironie und Humor sind beides immens wichtige Mittel meiner Arbeit, die mir erlauben, betrübliche Realitäten auf ehrliche und präzise Art wiederzugeben, ohne dass diese zu bedrohlich oder gar abschreckend wirken.
In „Tunnel“ habe ich Humor verwendet, um eine Realität zu zeigen, die wohl kaum als lustig angesehen werden kann. Politik ist ein ernstes Geschäft, aber die Menschen, die sie betreiben, sind das meist nicht zwangsläufig. Ich wollte die Farce, die Absurdität, die Widersprüche aufzeigen im Konflikt zwischen Israel und Palästina, in der akademischen Welt, in der Mutterschaft. Die Figuren in der Geschichte sind lustig, weil sie sich über ihre eigentlichen Interessen und die Lügen, die sie sich und anderen erzählen, nicht im Klaren sind. Sie sehen sich als gute Menschen und sind blind für das Leiden, das sie anderen zufügen. Humor ist ein großartiges Hilfsmittel, um mit dem Schrecklichen fertigzuwerden – und schwarzer Humor, um mit dem Grausamen fertigzuwerden. Beides gibt es im Leben stets zur Genüge.
Weißt du schon, was du als nächstes Projekt angehen wirst?
Die Arbeit an „Tunnel“ war ein sechsjähriger Marathon. Ich nehme mir jetzt eine Auszeit, um mich mehr aufs Unterrichten zu konzentrieren und auf meine Familie (die ich bei der Arbeit an dem Buch schändlich vernachlässigt habe), aufs Lesen und aufs Ausruhen. Ich wollte eigentlich auch wieder Reisen, was ich sehr gerne mache, aber Covid-19 hat diesen Teil meines Plans verhindert oder zumindest verschoben.
Mein nächstes Projekt wird ein wenig warten müssen. Auf jeden Fall denke ich, dass es ein Kindercomic wird. Etwas Kürzeres, weniger Anspruchsvolles, das zu zeichnen mir hoffentlich wieder genauso viel Spaß machen wird.