Eigentlich hatte ich mich auf Sempés Band „Endlich Ferien“ gefreut, kurz nachdem ich endlich Ferien gemacht hatte, und der zudem rechtzeitig vor seinem 90. Geburtstag am 17. August erschienen ist. Aber Sempé ist am 11. August gestorben, und deswegen wurde aus dem Gratulationsartikel nolens volens ein Nachruf. Ich hasse es Nachrufe zu schreiben, vor allem wenn ich schon ein halbes Dutzend davon auf Sempé gelesen habe, unvermeidlicherweise. Schließlich war er ein Gigant der französischen Kultur. Wobei „Gigant“ nur seine Bedeutung meint, denn ansonsten war so gar nichts Gigantisches, Übergroßes, Gewaltiges an ihm. Und genau das war und ist seine wahre Bedeutung und seine unfassliche Qualität.
„Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der Sempé nicht mag“, so beginnt das Vorwort von Jacques Réda (dt. von Jakob Emmanuel) zu „Endlich Ferien“. Seltsamerweise oder gar nicht seltsamerweise habe ich vor genau zehn Jahren, als Diogenes den Band „Kindheiten“ zu seinem 80. Geburtstag herausbrachte, beinahe denselben Satz geschrieben (oder zitiert). Dort finden Sie auch Biographisches und Kontextuelles, was ich nicht noch mal wiederkäuen möchte.
Jean-Jacques Sempés luftige Zeichnungen und Aquarelle haben etwas derart Entwaffnendes, an dem selbst hartgesottene Sauertöpfe scheitern müssen. Ich kenne in der Kunstgeschichte kaum ein vergleichbares Phänomen. Das hat natürlich auch viel mit der milden, skeptischen Humanität zu tun, mit der Sempé seine Welt inszeniert. Sempé gelingt es sogar, mich zu einer identifikatorischen Lektüre resp. Betrachtung seiner Bilder zu bringen, der ich doch Identifikatorik für eine ästhetiktheoretische Todsünde halte. Ferien, das ist für Sempé unendliche Gelassenheit – seine Menschen liegen im Gras, dämmern, dösen, schlafen, sitzen da und lesen, planschen in allerlei Gewässern, sind ausgelassen, ohne hysterisch zu wirken, erfahren ihre erste Liebe oder sind sich nach Jahrzehnten immer noch inniglichst zugetan. Es regnet kaum, das Gras ist grün, die Provinz bukolisch, die Badeorte sind nur selten mondän. Man hört die Zikaden und die Schwalben, man riecht die Natur, man schaut in die Ferne (wie Sempé Raum zeichnerisch behandelt, ist schlicht großartig). Und vornehmlich schaut man aufs Meer (– meine liebste Urlaubsbeschäftigung, cf. identifikatorisches Lesen).
Versonnen, sehnsüchtig, neugierig, entspannt, gespannt, grüblerisch – Sempé lässt eine ganze Galerie verschiedenster Menschen am Ufer stehen, den Blick aufs Wasser gerichtet, und in diesem stereotypen Motiv stecken jeweils individuelle Geschichten. Da ist das Mädchen mit pubertärer Melancholie, noch ein Mädchen, das während der eher zerstreuten Betrachtung des Meers versonnen ein Eis lutscht, eine perspektivisch winzig gehaltene Frau am Bug eines riesigen Schiffes, die sich an ihrem selbstinszenierten „Titanic“-Zitat vergnügt, ein solide gekleideter Kleinbürger mit sorgfältig hochgekrempelten Hosenbeinen, der den Sonnenuntergang konzentriert mustert, oder eine stolze Madame vor ihrer pompösen Villa, die es selbst mit dem Meer aufnehmen würde. Sie sehen: Alle Möglichkeiten sind da, sich irgendwelche Storys auszudenken, oder gar irgendwelche Interpretationen zu wagen, Symbolisches oder Allegorisches zu finden. Sempé hätte sicher nichts dagegen gehabt, aber dafür noch etwas Zusätzliches getan sicher auch nicht. Die „untröstliche Heiterkeit“ mit der er sich selbst charakterisiert hatte, würde solche Operationen auch nicht zulassen. Sempé zeichnet und malt die Welt so, wie sie nicht ist, oder, weil seine Welt zeitlos zu sein scheint, auch nicht einmal gewesen ist – in seiner ganz persönlichen (Re-)Konstruktion, die seltsamerweise etwa meine eigene Erinnerung an eine Welt, wie sie vermutlich auch nie war, evoziert, auch wenn ich auf der anderen Seite des Rheins großgeworden bin.
Sein Frankreich ist fast blütenweiß, kennt keine Konflikte, Klassenkämpfe, postkoloniale und koloniale Ungeheuerlichkeiten, es ist hauptsächlich (klein-)bürgerlich und heteronormativ. Das springt ins Auge, das kann man nicht übersehen. Man kann seine Bilder aber dennoch kaum als patriotisch und patriarchalisch geißeln, weil sie in ihrer luftigen, oft skizzenhaften, federleichten Machart nirgends autoritativ wirken können. Wobei das Skizzenhafte immer wieder mit einem präzisen Blick fürs Detail gebrochen wird: In einem kleinen Fischerdorf, irgendwo an der Mittelmeerküste, steht eine Frau auf der Terrasse ihres (Ferien-)Hauses und schaut aufs Meer, uns den Rücken zugekehrt. Sie hat gelesen, und auf dem Tisch liegt noch ihr Buch, eine Kaffeetasse und eine Brille. Ob sie für die Fernsicht eine andere Brille braucht, das verdeckt ihr Sonnenhut. Aber es geht um zwei Perspektiven – und genau solche Brechungen verhindern Eindeutigkeit, signalisieren immer wieder das Andere, das immer vorhanden ist. Ein anderes Bild, hart an der Karikatur, zeigt ein neureich-protziges Paar auf seinem Motorboot – dieses Paar grinst selbstgefällig, den Blick signifikant nicht aufs Meer hinaus gerichtet, sondern beifallheischend ans Ufer, zum staunenden Publikum. Auch nicht nette Leute machen Ferien.
Das „Untröstliche“ in Sempés Heiterkeit liegt vermutlich darin, dass er genau weiß, dass seine Welt kein Utopia ist, auch kein rückgewendetes, in dem früher alles besser war. Und seine Heiterkeit kommt daher, dass er Schönheit, Leichtigkeit, Eleganz und Idylle herbeizaubern kann, jenseits politischer und sozialer Bruchlinien, die deswegen nicht verschwunden sind. Die beiden letzten Bilder des Bandes sind Gegenentwürfe zu den Sommerferien auf dem Lande: ein Zimmer mit vielen Büchern, einer Katze, einem Bett, Radio und Fernseher, inmitten einer Großstadt. Und ein verschneites Stadthaus, aus dem ein strahlendes Kind in den dicht fallenden Schnee blickt und sich vermutlich während der Winterferien schon auf die nächsten Abenteuer freut. Ich würde mich auch gerne auf den nächsten Sempé-Band freuen, aber ach, er fehlt jetzt schon.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.09.2022 auf: CulturMag
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.