Von den Urmenschen bis zur Gegenwart

Jens Harder packt gut 2.000 Jahre Menschheitsgeschichte in gut 2.000 Bilder. Und die sind, ähnlich wie im ersten Band seiner Menschheitsgeschichte, von den Bildern aus der jeweiligen Zeit inspiriert. Harder hat also Malereien und Grafiken aus frühen asiatischen Hochkulturen recherchiert oder die wenigen Darstellungen, die es überhaupt noch von den amerikanischen Hochkulturen wie Maya und Inka gibt, weil christliche Missionare alles zerstört haben. Er hat mittelalterliche Tafelbilder eingebaut.

Diese historischen Bilder collagiert er mit zeitgenössischen Darstellungen, um den Blick von heute deutlich zu machen. Wenn es um japanische Samurai geht, kombiniert Jens Harder historische Zeichnungen mit Samurai-Manga, und wenn er die Arbeitsbedingungen zur Zeit der Industrialisierung zeichnet, dann sind da auch Bilder aus dem Film „Modern Times“ zu sehen, in denen Charles Chaplin im wahrsten Sinne des Wortes zwischen die Räder der Industrie gerät. Mit diesen Bildkombinationen verdichtet Jens Harder ungeuer – und er zeigt den kulturellen Kanon der unterschiedlichen Epochen.

Das Verblüffende daran: Gerade durch die Komprimierung macht Harder Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Geschichte überhaupt nachvollziehbar. Etwa den Niedergang des Römischen Reiches: Über viele Panel zeichnet Harder, wie die Römer Gebiete erobert, eine Hochkultur errichtet haben. Sie haben Straßen gebaut, Wasserleitungen, eine ausgefeilte Architektur entwickelt.

Und dann kommen plündernde Barbaren aus dem Norden und übernehmen die Macht und die Infrastruktur und wissen mit alldem gar nichts anzufangen. Jens Harder zeichnet, wie in den römischen Siedlungen zwischen Kapitellen Ackerbau und Viehzucht betrieben wird und die Gebäude mehr und mehr verfallen. Plastischer hat mir noch niemand vor Augen geführt, wie eine ausgefeilte Hochkultur von sehr viel einfacheren Gesellschaften gestürzt werden kann und mit welchem Kulturverlust das einhergeht.

Bild aus Jens Harders „Beta …civilisations volume II“ (Carlsen)

Im Nachwort schreibt Jens Harder, dass es aus seiner Sicht keine ausgewogene Darstellung der Zivilisation geben kann. Weil Harder aus der Perspektives eines Europäers schreibt, der die eigene Geschichte eben viel besser kennt. Und weil eben nur dort in großer Menge Bilder und Dokumente erhalten geblieben sind, wo es eine Kontinuität in der Kultur gab. Von Kulturen, die kolonialisiert wurden, ist dagegen mitunter wenig erhalten. Jens Harder hat deshalb von solchen Kulturen Bilder und Dokumente gesammelt und auch dann eingebaut, wenn keine Umwälzungen stattfanden. Das Hochmittelalter zum Beispiel eröffnet er mit Illustrationen von Alltagsszenen verschiedener tropischer Kulturen in Afrika, Asien und Amerika. Auf diese Weise gibt es immerhin Schlaglichter auf ganz unterschiedliche Kulturen.

Bis in die Gegenwart soll die gezeichnete Geschichte der Zivilisation reichen. Den Abzug der westlichen Welt aus Afghanistan hat Jens Harder gezeichnet. Ebenso den Klimawandel mit all den Dürren und Überflutungen. Den Raubbau an der Umwelt zeichnet Jens Harder schon knapp 100 Seiten vorher bei der Industriellen Revolution. Und auch als im Mittelalter die flächendeckenden Wälder Europas gerodet wurden, um Siedlungen zu bauen und im großen Maßstab Landwirtschaft zu betreiben.

In seiner Zivilisationsgeschichte zeigt Jens Harder also nicht nur die Brüche und Kulturverluste, die es im Laufe der vergangenen 2.000 Jahre gegeben hat, sondern auch auf die Kontinuitäten. Dazu zählt die Ausbeutung der Natur genauso wie der immer weiter wachsende Glaube, dass neue Technologien die Probleme der Welt lösen. Auf den letzten Seiten zeigt er zum Beispiel, wie Menschen durch digitale Metawelten surfen, die so viel schöner sind, als die echte Welt voller Plastikmüll und Armut.

Das ist ein Ausblick auf das nächste Projekt Harders, in dem er sich damit auseinandersetzt, wie die Zukunft der Zivilisation aussieht. Das klingt nach einem noch größeren intellektuellen Abenteuer. Der Comic „Beta …civilisations volume 2“ ist jedenfalls ein äußerst gelungenes historisches Monumentalwerk. Und ein Vergnügen für alle Liebhaber von Kultur- und Kunstgeschichte.

Hier gibt es eine Kritik zum Vorgängerband, hier findet sich ein Interview mit Jens Harder.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 02.11.2022 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Jens Harder: „Beta …civilisations Vol. II (Die große Erzählung 3)“. Carlsen, Hamburg 2022. 368 Seiten. 50 Euro