Kann man 14 Milliarden Jahre Evolution als Comic erzählen? Die Frage stellte sich der Berliner Zeichner und Autor Jens Harder Anfang der nuller Jahre und beantwortete sie sich selbst in Form eines höchst ambitionierten Projekts. In drei Epochen und vier wuchtigen Comicbänden von je knapp 400 Seiten – „Alpha“, „Beta 1“, „Beta 2“ und „Gamma“ – erzählt Jens Harder von der Geschichte unseres Planeten und der Menschheit.
Dafür ging Harder ganz an den Anfang: „Alpha …directions“ (2010 erschienen, mit dem Prix de l’Audace 2010 auf dem Comicfestival Angoulême und dem Max-und-Moritz-Preis als „Bester deutschsprachiger Comic“ prämiert) beginnt mit dem Urknall und erzählt ohne viel Text als assoziativer Bilderrausch von der Entstehung des Lebens bis zum Aussterben der Saurier. In „Beta …civilisations Vol. 1“ (erschienen 2014) hat der Homo sapiens seinen ersten großen Auftritt. Nach acht Jahren knüpft Jens Harder mit „Beta 2“ in seinem Ritt durch die Evolutionsgeschichte an unsere eigene Zeit an. Die frühen sumerischen und babylonischen Hochkulturen, die griechischen, römischen, persischen, ostasiatischen, südamerikanischen Weltreiche, die Christenheit, das Mittelalter, die Neuzeit, das Computer-Zeitalter – „Beta …civilisations Vol. 2“ ist eine schwindelerregende Lektüre, die Geschichte nicht nacherzählt, sondern als eine Art kollektives Bildergedächtnis rekonstruiert (hier die Kritik auf Comic.de). Am 8. Dezember um 20 Uhr feiert „Beta 2“ in Berlin Premiere (Modern Graphics, Kastanienallee 79, 10435 Berlin, Moderation: Andrea Heinze). Das folgende Presse-Interview mit Jens Harder erscheint anlässlich dieser Veröffentlichung.
Lieber Jens, bevor wir uns deinem Werk widmen, wollten wir ein wenig über deine eigene Comic-Origin sprechen. Wie bist du als Zeichner und Illustrator auf den Comic gekommen? War das etwas, was dich schon immer interessiert hat?
Mit dem Zeichnen begonnen habe ich, wie sicherlich die meisten von uns, als kleines Kind. Und an Comics oder zumindest Bildgeschichten und Cartoons gelesen habe ich auch, was immer ich hinterm Eisernen Vorhang im äußersten Osten der DDR in die Hände bekam. Besonders geprägt haben mich dabei neben den deutschen Zeichner-Urgesteinen Busch, Zille und e.o.plauen die phantastischen Zeitreisen der Digedags (einige hundert Hefte) und die rauflustigen Abenteuer von Asterix und Obelix (exakt ein Album!). Ein bisschen habe ich auch schon gezeichnet, aber recht infantiles Zeug, an dem ich rasch das Interesse verlor. In der Jugendzeit wendete ich mich mangels passender Stoffe grundsätzlich anderen Interessen wie Musik, Büchern und Film zu und probierte mich, wenn ich gestalterisch tätig sein wollte, in Fotografie, Typografie und Grafikdesign. Leider erst mit Ende zwanzig – also Ende der Neunzigerjahre – fand ich, nach einer längeren Phase als Druckgrafiker und Werbe-Fuzzi, während des Studiums wieder zu sequentiellen Erzählungen zurück.
Am Comic interessiert mich schon immer, dass durch die Abfolge der Panels eine Art Stop-Motion-Film vor dem inneren Auge entsteht, eine starke Verbindung zwischen ihnen wächst – ein Effekt, der sich ja oft schon einstellt, wenn man nur zwei Bilder nebeneinander platziert. Man kann stumme Abläufe erzeugen, aber durch Verbindung mit Text auch sehr komplexe Geschichten erzählen, die unter Einbindung von Sprechblasen, Soundwords und Onomatopoesie sogar fast hörbar werden. Das Medium verbindet somit viele Eigenschaften aus Literatur, Illustration und Film und ist für mich als Autor und Zeichner perfekt geeignet, um meine Themen darin auszudrücken.
Kannst du uns ein bisschen über deine Anfänge als Comickünstler erzählen? Du warst als Student Anfang der nuller Jahre in der Berliner Comicgruppe Monogatari organisiert. Wie hast du damals die Comicszene in Berlin und Deutschland erlebt? Was war für dich in dieser Zeit prägend?
An der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, an der ich 1996 mit dem Kommunikationsdesign-Studium begann, wurde nach zwei Jahrzehnten Abstinenz meine Liebe zum Comic erneut – und diesmal wesentlich tiefgreifender – geweckt. Ab dem zweiten Studienjahr schon beschäftigten wir uns im Fachbereich Grafik intensiv mit Illustration und allgemein gezeichneten Geschichten; spätestens 1999 hatten mehrere Kommilitonen (Tim Dinter, Kathi Käppel, Kai Pfeiffer, Mawil, Ulli Lust und ich) sich als Zeichnergruppe Monogatari zusammengefunden und wir begannen, uns gegenseitig zu inspirieren und weiterzuentwickeln sowie erste Comicreportagen und Kurzgeschichten zu erarbeiten. Im selben Jahr begannen wir auch schon selbst als Kleinverlag zu publizierten – Sieddruckserien-Kalender, Hefte und einige Anthologien; eine sehr fruchtbare Zeit, in der wir extrem viel herumexperimentierten und auch erste gute Erfahrungen mit Verlagen (Edition Moderne, Reprodukt, avant-verlag), bei Ausstellungen (Berlin, Hamburg, Luzern, Basel) und auf Festivals (Comicfestival Berlin, Fumetto Luzern, Comic-Salon Erlangen, Internationales Comicfestival Angoulême) sammelten.
Die Comicszene in Deutschland war zu dieser Zeit noch sehr eintönig bis fast schon langweilig – männlich, weiß, mittelalt und dementsprechend auch thematisch ausgerichtet. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren unglaublich toll und vielfältig entwickelt; eine solche Öffnung hätte damals niemand in dieser Schnelligkeit und Tiefe für möglich gehalten. Was mich in der Anfangszeit geprägt hatte, waren die ruhigen, nachdenklichen, grafisch besonders herausragenden Arbeiten von Leuten wie Mattotti, Igort, Couché, Baudoin, Ware, Clowes, Burns, Dieck, Atak u. a. (Huch, die sind ja auch alle männlich, weiß, mittelalt!), dazu Experimente wie OuBaPo und Independent-Comics wie die im „Strapazin“ oder dem „RAW“-Magazine publizierten (und in letzterem ganz besonders die bahnbrechende, nur sechs Seiten lange Kurzgeschichte „Here“ von Richard McGuire).
2003 hattest du deinen Durchbruch mit dem Band „Leviathan“, der aber nicht auf dem deutschen, sondern auf dem französischen Markt erschienen war. Mit „Leviathan“ hattest du deinen Stil aus Kompilation, Bildzitaten und Narration eingeführt. Könntest du uns ein bisschen über dieses Projekt erzählen?
„Leviathan“ war meine Meisterschülerarbeit bei der Zeichenprofessorin Nanne Meyer an der KHB, der eigentliche Abschluss des Studiums, nachdem ich bereits ein Jahr zuvor mein Diplom mit einer ziemlich seltsamen Comicstrip-Sammlung („JOJO – von der machbarkeit des möglichen“) gemacht hatte. Da diese Strip-Sammlung unter großem Zeitdruck entstand und mich nicht vollends zufriedenstellte, wollte ich im Meisterschülerjahr zeichnerisch so richtig in die Vollen gehen und dabei besonders meine große Liebe für das Meer inklusive all seiner „Bewohner“ (Fische, Schiffe, Kraken, U-Boote, Mollusken, aber ganz besonders Wale) in Linien und Panels gießen. Heraus kam ein stummer Bilderstrom über fast 150 A3-Seiten, in den ich allerlei Mythen und Geschichten rund ums nasse Element einwebte, so biblische Episoden (Arche Noah, Hiob), philosophische Schriften (Hobbes, Melville) und ganz realistische, fast schon dokumentarische Ereignisse (den Untergang der Titanic, das Floß der Medusa, dazu Walfänger, Umweltkatastrophen etc.). Um all diese innerhalb des Erzählflusses aufploppenden Versatzstücke kenntlich zu machen, hob ich sie farblich ab, schaffte so optisch eine neue Ebene. Ich traute den Leser*innen damals wohl noch nicht zu, dass sie das selbst bei der Lektüre entsprechen zuordnen könnten. Bei „Alpha“ wurde ich dann mutiger. Ich setzte viel mehr Wissen um die Kontexte und Quellen voraus und zeigte all die verschiedenen Zitate und Adaptionen innerhalb der Evolutionsgeschichte, die ich stets mit passenden kulturhistorischen Abbildungen der gesamten Menschheitsgeschichte konfrontierte, auf eine gleichberechtigte Art und Weise. Ich nivellierte somit die Unterschiede eher als sie herauszustellen und hoffte, dass die Rezipient*innen das schon „in meinem Sinne“ verstehen würden. Und es ging ja auch gut, obwohl ich natürlich meistens Feedback von Leuten bekam, bei denen es funktionierte; von denen, wo das Konzept nicht aufging, hörte ich seltener (ich mache mir da aber keine Illusionen, dass das wirklich so selten auftrat; meistens melden sich Leser*innen nur, wenn sie von etwas begeistert sind oder es grottenschlecht finden, die Nuancen dazwischen sind eher leiser Natur).
Bei der von mir verwendeten Verschaltung verschiedenster Bildmotive geht es mir darum, Entwicklungen aufzuzeigen und dabei mehr oder weniger große Zeitsprünge vorzunehmen, um das Potential einer neuen evolutionären Stufe oder einer technischen Innovation abzubilden. So zeige ich in „Alpha“ die mehrfach vollzogene Entstehung der Augen im Tierreich, um nach wenigen Panels bei unserer heutigen Kameratechnik zu landen. Oder ich bebildere den bahnbrechenden Schritt zur Beherrschung des Feuers in „Beta“, um dann recht schnell zu den heutigen Extremen in dessen Nutzung überzuleiten – dem Medienkonsum einerseits und der kaum beherrschbaren Atomenergie andererseits. Oft sind die von mir vorgenommenen Kombinationen und Paarungen aber auch Bildmetaphern oder -analogien, Kontrastierungen und Zuspitzungen, die meiner Haltung zu gewissen Themen entspringen und durch die ich sie kommentieren möchte.
2010 ist dann mit „Alpha“ der erste Band deiner Evolutionsreihe erschienen. Magst du uns erzählen, wie es zu dem Projekt kam und was du mit „Alpha“, „Beta“ und „Gamm“ umsetzen wolltest?
Nachdem „Leviathan“ im Jahr 2003 so gut startete und auf dem größten europäischen Comicfestival in Angoulême sogar gleich nach Erscheinen für einen Preis nominiert wurde, fragte mich mein französischer Verleger Thierry Groensteen, was meine nächsten Ideen wären. Da ich gerade sehr im Comic-Reportagenfieber steckte und drei Jahre zuvor eine atemberaubend schöne Reise quer durch Vietnam unternommen hatte, schlug ich ihm a) einen Vietnam-Reisecomic, b) eine etwas größenwahnsinnig angedachte Neuauflage von „Little Nemo in Slumberland“ namens „Little NEO“ und c) die Evolutionsgeschichte als Comic, damals noch konzipiert als ca. 250-seitiger One-Shot. Thierry sagte einfach „Mach c – das würden die Leser am ehesten von dir erwarten.“ Ich war zwar etwas traurig, dass er die Reisereportage abwählte, denn ich wäre sehr gernw noch mal durch Südostasien gezogen, aber andererseits brannte ich darauf, all das faszinierende Werden und Wachsen unserer Welt abzubilden. Damit war das Gleis also gelegt und die Arbeit konnte umgehend beginnen…
Mit der „Grand Recit”, meiner Evolutionsgeschichte, die recht bald zu einer Trilogie auswuchs und deren zweiter Teil sich sogar nochmals in zwei Bände aufteilte, wollte ich all das bündeln, was uns Menschen ausmacht und bewegt, aber auch all das, was mich seit frühester Kindheit interessierte, was sich so herrlich zeichnerisch ausbreiten und verdichten lässt. Wissenschaft in allen Ausprägungen – Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Paläontologie, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte – eingebettet in eine Milliarden Jahre lange Erzählung und aufgefädelt in verschiedenste zeitliche Abläufe, sich langsam, aber unaufhaltsam vor dem Auge entfaltend wie in einem gefrorenen Animationsfilm, wiedergegeben in dem dafür perfekt geeigneten sequentiellen Medium Comic, all das wollte ich nun zu Papier bringen. Es war genau das Buch bzw. die Buch-Reihe, nach der ich immer suchte, die ich immer in meinen Händen halten wollte. Es klingt so leicht dahingesagt, aber es ging genau darum: etwas zu schaffen, das ich immer vermisst hatte. Und dabei war er doch so naheliegend, der Wunsch nach solch einem Buch.
Im Zentrum deiner Arbeiten steht deine grafische Kompilationstechnik, die eine Art visuelles Gedächtnis der Menschheit, wissenschaftliche Modelle, religiöse Malerei und popkulturelle Artefakte parallelsetzt und miteinander korrespondieren lässt. Nachdem du mit „Alpha“ und „Beta 1“ Epochen der Erdgeschichte behandelt hast, für die es keine bildlichen Überlieferungen gab, kommen wir nun in „Beta 2“ in das Zeitalter der menschlichen Zivilisation, von den ersten frühen Hochkulturen bis heute. Wie hat sich dein zeichnerischer Ansatz im Vergleich zu den beiden ersten Büchern gewandelt?
Der Rechercheaufwand hat im Laufe der Zeit enorm zugenommen, aber nicht weil es so viel Unbekanntes gibt (wie in „Alpha“ oder den ersten Kapiteln von „Beta 1“), sondern ,im Gegenteil, weil es mittlerweile zu viel angesammeltes Wissen gibt, zu viele Ereignisse, Erfindungen, Entwicklungen, dazu noch zu viele Interpretationen, Instrumentalisierungen, Ideologisierungen. Kurz gesagt, es war ziemlich schwierig! Und natürlich stieg der Aufwand, zu filtern und auszusortieren im selben Maße an, in dem ich mich dem Heute näherte. Wenn ich bei einem speziellen Thema in der Antike beispielsweise zwischen zehn Motiven auszuwählen hatte, waren es in der frühen Neuzeit vielleicht schon hundert und am Ende des Buches viele Tausend. Da halfen mir nur Ordner (analoge und digitale), in denen ich über all die Jahre hinweg ablegte und zuordnete, was immer ich in die Hände bekam. „Religion”, „Handel”, „Krieg”, „Landwirtschaft”, „Städte” – das waren nur einige meiner vielen Dutzend Sammelrubriken, die immer noch weiter aufgefächert wurden in viele Unterkategorien.
Bei der Umsetzung wollte ich über die Bücher hinweg meine Zeichnung, die ja in „Alpha“ noch sehr statisch und fest, ja geradezu holzschnittartig wirkte, immer weiter lösen. In „Beta“ änderte ich das Zeichenformat von A3 zu A4 – alle Panels sind im Buch nun somit nahezu Originalgröße, darüber hinaus griff ich statt zu meinen geliebten Albrecht-Dürer-Farbstiften und Zeichenkarton nun zu simplem Bleistift auf Kopierpapier, um die Hemmschwelle beim Loslegen zu senken und um dem Ganzen eine eher skizzenhafte Anmutung zu geben. Und ich beschloss, mehr und mehr wegzulassen, nur schemenhaft anzudeuten. Das ist mir nun zwar eher ungenügend gelungen, weil ich einfach nicht rechtzeitig aufhören kann innerhalb einer Zeichnung. Aber immerhin konnte ich mich in den heftigsten Architektur- oder Massenszenen ein wenig rausschummeln, wenn es gar nicht mehr anders ging…
Drucktechnisch gibt es nach dem starken Farbwandel von Regenbogenfarben (rot, orange, ockergelb, grün, türkis, blau, violett) in „Alpha“ in „Beta“ den Wechsel hin zu Metallictönen (gold, silber, bronze) und speziell beim zweiten Teil zumindest die kleine Nuance, dass nun oft auch ein aufgerastertes Schwarz in Aktion tritt, was die Variabilität beim Kolorieren der Seiten noch mal deutlich erhöhte. Das Cover von „Beta 2“ hingegen lehnt sich von Farbigkeit und Struktur her stark an den ersten Teil an, damit die Verwandtschaft deutlich wird.
Es scheint besonders schwierig, die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, das im Vergleich zu den früheren Jahrhunderten besonders rasant war, auf wenigen Seiten piktografisch zu erfassen. Wie bist du dabei vorgegangen? Wo war lag für dich der Fokus?
Nun, wie bei allen anderen Epochen war mir erst mal wichtig, die Marksteine zu setzen – die alles verändernden großen Momente: Erfindungen (Atomkraft, Telekommunikation, Autos, Rechentechnik), Umwälzungen (Revolutionen, Demokratien, Befreiungsbewegungen, Kampf um gleiche Rechte), neue Tendenzen (Jugendkulturen, Globalisierung, Liberalisierung, Digitalisierung, Umweltzerstörung); dazu die großen Umbrüche wie die zwei Weltkriege inklusive dem krassest denkbaren Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte, dem Holocaust, dann das Errichten der Nachkriegsordnung und die weltweite Beschleunigung des Turbokapitalismus bis zum heutigen Tag. Daneben versuchte ich auch immer, kleinere Seitenpfade zu beschreiten oder punktuelle Nebenschauplätze auszuleuchten – was aber aufgrund der erstickenden Dynamik der sich immer schneller ablösenden Entwicklungen und der gegen Buchende immer stärker drückenden Seitenökonomie nur sehr ungenügend umgesetzt werden konnte.
Letztendlich hatte ich wie in den Teilen zuvor gegen Ende des Buches wieder das Gefühl, in einem sich immer schneller drehenden Hamsterrad zu sitzen. Nach den recht gemächlichen Entwicklungen in „Alpha“ nahm die Entwicklung dort auf den letzten Seiten (im Quartier) genauso Fahrt auf, wie sie sich in „Beta 1“ nach vielen Kapiteln Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit dann in Richtig Antike immer mehr beschleunigte. Aber in jedem der drei Bücher wollte ich wenigstens eine grobe Proportionalität in der Zeitbezogenheit der Kapitel bewahren. Wäre ich nur schlichten Attraktivitätskriterien gefolgt, könnte ja locker das halbe „Alpha“ aus Dinosauriern bestehen. So sind es aber nur circa 30 Seiten geworden – immer noch viel zu viele eingedenk der „paar“ hundert Millionen Jahre Existenz, aber stärker beschneiden konnte ich diese Epoche aufgrund der vielen wichtigen Veränderungen dann doch nicht.
Kannst du uns ein bisschen über deine Zeichentechnik und deine Arbeitsweise verraten? Wie gehst du vor, wenn du dich an die Komposition einer Seite machst?
Im Gegensatz zu den anderen Comics von mir (oder der meisten Kolleg*innen) gibt es bei „Beta“ kein Skizzenstadium. Ich kann aber anhand einer Seite kurz zusammenfassen, wie ich von der ersten Idee bis zum fertigen Motiv vorgegangen bin. Als ich beispielsweise die Wiege der Menschheit, den Ausgangspunkt aller späteren Entwicklungen, Afrika, auf einer Seite feiern wollte, dachte ich mir als Konzept, den Kontinent mit dutzenden Masken zu fluten, afrikanische Masken aus allen möglichen Epochen und von allen möglichen Völkern, um die Vielfalt und den Reichtum der dort aufblühenden Kulturen zu visualisieren. So suchte ich zunächst aus meinem Fundus und im Netz hunderte Beispiele für besonders eindrucksvolle und variable Masken aus, siebte dann eine repräsentative Auswahl von circa 30 heraus, die ich auf einer Karte des Kontinents arrangierte. Als die Komposition irgendwann „saß“, ging ich mit einem Ausdruck der Seite zur analogen Reinzeichnung am Lichttisch über. Die fertige Zeichnung scannte ich dann ein, retuschierte und kolorierte sie in meinem Bildbearbeitungsprogramm, bis nach insgesamt circa zwei Tagen Arbeit (von der Idee bis zur Fertigstellung) das Endergebnis vorlag.
Und was kannst du uns über „Gamma“ erzählen? Was hast du für Pläne für das finale Buch?
Ich habe – ermutigt durch meine Carlsen-Redaktion und auch durch die Erkenntnis, dass das Ende der Serie mittlerweile in wirklich greifbare Nähe gerückt ist – vor einigen Wochen bereits mit der Zukunft begonnen. Der letzte Teil wird wohl auch nur halb so dick werden wie seine Vorgänger, was für mich nach drei 368-Seiten-Wälzern sehr erholsam klingt; aber auch 180 Seiten wollen ja erst mal gefüllt werden, wenn man wie ich nun durch immer dichteren Nebel segeln muss. Ich stütze mich aber immerhin auf starke Schultern – auf den reichen Fundus an utopischer und Science-Fiction-Literatur, auf die vielen Filme, die seit Jahrzehnten unsere Kinos und Monitore überschwemmen, an Prognosen und Interpolationen der Wissenschaftler*innen und Trendforscher*innen, selbst an vergangene Zukünfte, sogenannte Paleo-Future.
Ein unerwartetes und starkes Werkzeug wurden mir in der letzten Zeit beim Suchen bzw. Schaffen passender Motive die verschiedenen Bildgenerierungs-KI, die seit diesem Sommer durchs Netz geistern. Auf meinen ersten Seiten ist, neben Filmstills und einigen wissenschaftlichen Illustrationen, bereits ein Drittel der Panels KI-basiert. So passend unterstützt kann ich also gut eintauchen in die nächsten Jahrhunderte – insgesamt wird „Gamma“ aber wie „Alpha“ erneut einen Erzählhorizont von vielen Milliarden Jahren haben. Die Fertigstellung der Serie ist momentan für Ende 2024 anvisiert; somit habe ich für die gesamte Serie mit circa. 1.300 Seiten und 8.500 Panels und einer erzählten Zeit von etwa 115 Milliarden Jahren am Ende zwanzig Lebensjahre gebraucht – eigentlich ein Klacks!