Die Ambivalenz des Staunens – Leos „Morgen“

Science Fiction zeigt uns mögliche Welten von morgen. Wer die Comics des brasilianischen Autors und Zeichners Leo (eigentlich Luiz Eduardo de Oliveira) verfolgt hat, wird zuletzt immer ganz viel „gestern“ darin gefunden haben. Gerade ist der erste Band seiner neuen Serie „Morgen“ erschienen.

In „Morgen“ gibt es zwei zeitlich wie räumlich verschiedene Handlungsstränge. Die amerikanische Kleinstadt-Highschool-Clique um Ted, Jo und Carol sucht sich ihre Freiräume vom tristen Unterricht in leerstehenden Villen am Stadtrand. Abends schleichen sie sich in die verwahrlosten Luxusimmobilien, um Alkohol zu trinken, Gitarre zu spielen und Jugendlichenzeugs zu machen. Die Autos in Stromlinienoptik und die American Diners laden uns dazu ein, die Handlung in den 1950er-Jahren zu verorten, aber vielleicht sind wir da etwas voreilig, denn in dieser Welt stimmt einiges nicht. Ted entdeckt in einem der Häuser eine Tür, hinter der sich ein Raum öffnet, der keine Grenzen zu kennen scheint. Und die Naturgesetze scheinen auch nicht ganz den unseren zu entsprechen…

Der zweite Handlungsstrang erzählt von Martin und seiner Tochter Fleur, die in einer kleinen ländlichen Selbstversorgergemeinschaft in Europa leben. Windkraft. Rübenanbau. Tauschhandel. Man würde die Handlung im 19. Jahrhundert verorten wollen, aber spätestens mit der Ankunft des ersten Militärfahrzeugs werden wir schlauer: Diese Welt ist nicht von gestern, sondern von morgen. Ein großer Krieg hat die Menschen zurückgeworfen und die stabilen Machtzentren zerschlagen, die einst Ordnung und Sicherheit garantierten. Nun bedrohen marodierende paramilitärische Banden den Frieden, und abgesehen davon ist sowieso alles aus den Fugen geraten: seltsame Tiere, zukünftige Technologie, Erscheinungen am Himmel.

Berühmt geworden ist Leo mit seinen Science-Fiction-Welten von „Aldebaran“ (1994–1998) und „Betelgeuse“ (2000–2005), deren extraterrestrische Randgebiete der Splitter Verlag im deutschen Sprachraum zugänglich macht, nachdem Epsilon eine deutsche Ausgabe als Fragment hinterlassen hatte. Über 60 Alben der diversen Serien sind hierzulande erhältlich – und Leo schreibt noch immer. Charakteristisch ist die Publikationsform in Zyklen zu je fünf Alben. Leos Prinzip der Erzählzyklen hat den Vorteil, dass kundige Leser die Zusammenhänge sehen, Neueinsteiger die Zyklen aber auch ohne Verständnishürden lesen können.

Bild aus „Morgen“ (Splitter Verlag)

Leo verfährt ähnlich eklektisch wie sein Genre-Bruder im Geiste Christophe Bec: Er variiert seine wenigen Plotideen nur in Nuancen und füttert sein Publikum mit vertrauter Kost. „Namibia“, „Kenya“, „Antares“ und „Ferne Welten“ – Leos Szenarien sind manchmal kaum mehr als Selbstkopien: Menschen besuchen andere Planeten. Aliens besuchen die Erde. Eine Frau duscht. Die Gefahr bleibt. Nächstes Album. In den Szenen dazwischen bestaunen wir gemeinsam mit den Figuren die Fremdartigkeit der außerirdischen Lebewesen: fünf Arme, zwei Köpfe, sieben Finger. Der Kopf zu lang, die Finger zu kurz, schon haben wir das Alienungetüm. Dieses Prinzip nutzt sich einigermaßen schnell ab, und Leo tat gut daran, für seine Serie „Mermaid Project“ nicht nur eine neue Co-Szenaristin (Corine Jamar) ins Team zu holen, sondern mit Fred Simon auch einen spannenderen Zeichner. Für „Morgen“ hat er auf seinen langjährigen Co-Szenaristen Rodolphe („Kenya“, „Centaurus“) und Louis Alloing als Zeichner zurückgegriffen.

Es gibt viele gute Gründe, Leos Science-Fiction-Comics zu ignorieren, aber „Morgen“, so muss man zugestehen, folgt dem „gestrigen“ Erfolgsrezept des Kopierkünstlers nicht 1:1. Die unklare Beziehung der beiden Handlungsstränge zueinander erzeugt tatsächlich eine gewisse Spannung, und auch das Design dieser seltsamen Welten, die sich nicht mit unseren Vorstellungen von Zeit und Raum in Einklang bringen lassen, ist interessanter als in den allermeisten von Leos Geschichten. Das stellt „Morgen“ immerhin auf eine Stufe mit „Mermaid Project“.

Aber ist das „Erstaunliche“ von Leos Welten eigentlich Science Fiction? Entspricht das Dietmar Daths Vorstellung von SF als produktive „Denkmaschine“? Das Staunen ist eine Reaktion, die zu wissenschaftlicher Untersuchung antreiben oder im verschwurbelten Raunen ersticken kann. Leos Comics haftet bei allem szientistischen Interieur immer auch etwas Esoterisches an, eine hilflose Ohnmacht gegenüber etwas, das zu groß ist, um es vollständig zu erkunden. Rätsel sind nun einmal gleichermaßen anziehend für Wissenschaftsfreunde wie auch für Verschwörungsfanatiker, und ob das Rätsel dieser Serie am Ende bloß mit offenem Mund bestaunt wird oder aber einer Auflösung entgegeneilt, werden die Folgebände zeigen.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Leo und Rodolphe (Autoren) und Louis Alloing (Zeichner): „Morgen – Akt 1“. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 56 Seiten. 16 Euro