„Comic waren der heißeste Scheiß am Firmament der noch jungen Unterhaltungsindustrie“

Rudolph Dirks, Sohn von Einwanderern aus dem norddeutschen Städtchen Heide, erfand 1897 den Zeitungscomic „The Katzenjammer Kids“ und kreierte damit in den USA einen Jahrzehnte anhaltenden Comic-Hype, der den kompletten Zeitungsmarkt umkrempelte. Dass Dirks‘ Leben und Werk kaum erforscht, seine Originale größenteils verloren und seine Bedeutung für die Comic- und Popkulturgeschichte in Vergessenheit geraten sind, ist im wahrten Sinne des Wortes ein Jammer! Aber das ändert sich gerade.

Der Kulturwissenschaftler Alexander Braun hat in den letzten Jahren einige der wichtigsten Ausstellungen zur Kulturgeschichte des Comics kuratiert. Darunter 2016 für Max Hollein in der Frankfurter Schirn „Pioniere des Comic” und 2017 „Comics! Mangas! Graphic Novels!” für die Bundeskunsthalle in Bonn. Für den Taschen Verlag hat er viel beachtete Bände über Winsor McCays „Little Nemo“ und George Herrimans „Krazy Kat“ veröffentlicht. Und im Avant-Verlag sind wunderschöne und brillant recherchierte Coffee-Table-Books über Will Eisner und „Horror im Comic“ erschienen. Zusammen mit dem Comickünstler Tim Eckhorst, der schon seit einigen Jahren zu Rudolph Dirks forscht und schreibt, hat er sich nun dem vergessene Helden des Comics zugewandt. Dirks‘ Familie kam Ende des 19. Jahrhunderts als Wirtschaftsflüchtlinge nach Amerika. Dirks war da gerade 7 Jahre alt. Mit nur 20 Jahren entwickelte er für den New Yorker Zeitungszaren Randolph Hearsts den Zeitungscomic „The Katzenjammer Kids“ als eine Art Hommage an Wilhelm Buschs „Max und Moritz“. „The Katzenjammer Kids“ wurde ein gigantischer Erfolg und initierte den Aufstieg des Comics als Massenmedium. Umso verwunderlicher, dass man über den frühen Superstar des Comics heute kaum etwas weiß. Alexander Braun hat jahrelang recherchiert und unbekannte Originalseiten und Fotodokumente aus Privatsammlungen zusammengetragen. „Katzenjammer“ (hier Mario Zehes Rezension auf Comic.de) ist die erste umfangreiche Monografie zum Leben und Werk von Dirks und seinen Kollegen, die einen fundierten Einblick in die Epoche liefert und sowohl Gesellschafts- als auch Kulturgeschichte vermittelt. Begleitend dazu laufen bzw. liefen gleich zwei Ausstellungen zu Rudolph Dirks, eine von Alexander Braun kuratierte Ausstellung im „schauraum: comic + cartoon“ in Dortmund (noch bis zum 10. April) und eine von Tim Eckhorst kuratierte Schau in Dirks‘ Heimatstadt Heide (bis zum 26. März). Im folgenden Presse-Interview spricht Braun über die Hintergründe des Projekts.

Abbildungen oben und unten aus „Katzenjammer“ (Avant-Verlag)

Lieber Alexander, bevor wir uns über dein neues Projekt unterhalten, erst noch mal Glückwunsch zu dem „Max und Moritz“-Spezialpreis der Jury, den du für deine Arbeit im Sommer 2022 erhalten hast. Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für dich und deine langjährige Arbeit?

Ich habe noch nie ein Projekt wegen Geld oder Ruhm in Form von Preisen gemacht. Im Vordergrund steht immer, ob ein Künstler oder ein Thema die Lebenszeit rechtfertigt, die es kostet, es zu realisieren. Allerdings muss ich gestehen: Ein bisschen komisch fühlte es sich über die Jahre dann schon an, als sich mit den Eisner-Award-Gewinnen 2015 und 2020 abzuzeichnen begann, dass meine Arbeit offenbar in den USA mehr geschätzt wird als in Deutschland. Der Prophet im eigenen Lande… man kennt das. Dank Erlangen und zuvor zwei Peng-Preisen in München ist wieder Harmonie hergestellt. Somit also: Genug der Preise!

Bleiben wir bei „Max und Moritz“: Der Pre-Comic-Klassiker von Wilhelm Busch gilt ja als Vorlage für die „Katzenjammer Kids“. Zeitungszar William R. Hearst hatte Rudolph Dirks nicht zuletzt wegen seiner deutschen Wurzeln in sein Blatt geholt und gefördert, weil er sich einen zweiten Busch von ihm versprach. Erzähl uns doch ein bisschen über den Beginn der „Katzenjammer Kids“ und die Verwandtschaft zu Max und Moritz.

Hearst und sein Comic-Redakteur kannten das Werk von Wilhelm Busch. Wie ausführlich, wissen wir nicht, aber „Max und Moritz“ lag 1897, als die „Katzenjammer Kids“ starteten, bereits seit Jahren als englische Übersetzung vor. Ich glaube, es war die Mischung aus deutscher Tradition, Einwanderer-Identität, Streiche im Slapstick-Modus und dem damit verbundenen anarchischen Humor, die die Idee für die Herren so sexy machte: Hans und Fritz als Max und Moritz 2.0 fürs 20. Jahrhundert. Hearst hatte zudem ganz frisch die Erfahrung gemacht, wie super das Yellow Kid funktioniert hatte: Kinder, Hinterhöfe, die Armut der Unterschicht als Kulisse, aber nicht als Anlass für Depressionen, sondern als chaotischer Tummelplatz der Selbstbehauptung, ein Milieu, in dem der anarchische Witz Urstände feierte. Das gefiel Millionen von Leserinnen und Lesern und passte gut in Hearsts Programm, mit seinen Zeitungen den Mächtigen ans Bein zu pinkeln.

Kannst du uns ein bisschen über die Anfangstage des Zeitungscomics erzählen? Welche Rolle spielten diese Sonntagscomics für die Zeitungs-/Presselandschaft um die Jahrhundertwende? Wie erfolgreich und wichtig waren sie für die Zeitungen selbst? Welche Rolle nahmen sie in der Unterhaltungsindustrie generell ein?

Poleposition! Das kann man nicht oft und deutlich genug unterstreichen! Comicstrips waren der Gipfel der Unterhaltungsindustrie. Der Film steckte noch in seinen Kinderschuhen, blieb noch lange schwarzweiß und stumm. Der Hörfunk setzte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg durch. Comicstrips waren groß und in Farbe gedruckt, präsentierten eine völlig neue freche Form von Humor und kosteten lächerliche 5 Cent am Sonntag (werktags nur 1 bis 2 Cent). Dafür bekamen die Menschen ein fettes Entertainment-Paket von bis zu 100 Seiten Sonntagszeitung mit dutzenden von Supplements, worunter die Comicsektion der unangefochtene Star war. Die Sonntagszeitungen wurden mit dem Comicbogen nach außen gelegt verkauft. Die Katzenjammer Kids, Oppers Happy Hooligan u. a. stellten die Titelseite der gesamten Zeitung dar und repräsentierten sie. Wer die beliebtesten Comichelden hatte, hatte die höchste Auflage. So einfach war das. Comic war in aller Munde und der „heißeste Scheiß” am Firmament der noch jungen Unterhaltungsindustrie. Entsprechend hoch wurden die Zeichner bezahlt. Inflationsbereinigt verdiente Rudolph Dirks bis zu $ 10.000 in der Woche!

An welche Leser*innen richtete sich „Katzenjammer Kids“ damals? Waren Einwanderer wie die Dirks-Brüder selbst die Zielgruppe? Oder die ganz normale Leserschaft, die wiederum selbst mit bestimmten Bildern Bilder und Meinungen über deutsche/europäische Einwanderer im Kopf den Comic las?

Das lasen alle. Wenn die „Katzenjammer Kids” nur ein Nischenprodukt für die deutschen Einwanderer gewesen wären, hätten sie nicht die Titelseite von Hearsts Comic-Supplement erobern können. Die Herkunft der Katzies war zweifellos deutsch, aber das traf offensichtlich den Nerv der gesamten amerikanischen Gesellschaft. Die deutschen Einwanderer identifizierten sich in besonderer Weise mit den Figuren und der Rest amüsierte sich über ihr spezifisches Benehmen, das irgendwie wie eine ständige Transformation der Alte Welt in die Neue daherkam. Einwandererwurzeln hatten schließlich alle.

Das Besondere an den „Katzenjammer Kids“ war u. a. der Sprachgebrauch von Dirks. Seine Figuren sprechen kein klassisches Englisch, sondern einen sehr eigenen Dialekt, eine Art Pidgin aus Englisch und Deutsch. Welche Funktion erfüllte dieses „Denglisch“ in dem Comic? Und was machte für die Leser*innen den Reiz dieses Sprach-Mischmaschs aus?

Die Sprache ist ein ganz wesentliches Element des Humors. Hearst hatte mit dem „Morgen Journal“ auch eine komplett deutsche Zeitung für die Einwanderer-Community in New York im Programm. Dort erschienen die Katzies parallel auf Hochdeutsch – sind aber nicht mal halb so lustig! Es braucht offensichtlich diese Mischung aus Unbeholfenheit, Bauernschläue und dem festen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Diese Souveränität, sich auch mit bzw. trotz der eigenen Makel zu behaupten, wurde maßgeblich durch die Sprache transportiert: Ich kann nur schlecht Englisch! Na und? Dafür habe ich das: Dynamit!

Im Gegensatz zu Deinen Büchern „Will Eisner – Graphic Novel Godfather“ (2021) und „Horror im Comic“ (2022) hast du bei deinem neuen Buch nicht alleine gearbeitet, sondern zusammen mit Tim Eckhorst, der bereits 2012 eine kleine Monografie zu Rudolph Dirks veröffentlicht hat. Wie kamt ihr zusammen und wie war die Zusammenarbeit?

Ich hatte zusammen mit den Dortmundern beschlossen, dass wir das 125jährige Jubiläum der Katzenjammer Kids im Dezember 2022 mit einer Ausstellung im schauraum: comic + cartoon begehen wollen, was automatisch ein Buch zur Ausstellung miteinschließt. Tim und ich hatten zuvor 2018 dem Museum in Heide, der Geburtsstadt der Dirks in Holstein, geholfen, eine Ausstellung auf die Beine zu stellen. Am Ende beschlich uns aber beide das Gefühl, dass da noch zu viele lose Enden wären. Das Phänomen Dirks war noch lange nicht auserzählt und es hatte noch nie eine erschöpfliche Monografie gegeben, auch im englischen Sprachraum nicht. Alles nur Halbwissen. Also hatte sich Tim im Anschluss vorgenommen, die in den ganzen USA versprengten Dirks-Angehörigen, Ur-Neffen und -Nichten aufzutreiben, ob nicht irgendjemand noch Dokumente und Informationen hätte. Das war nicht ganz so ergiebig, wie wir uns das erhofft hatten, förderte aber doch etliche neue Aspekte ans Tageslicht. Ich habe derweil meine Sammlung historischer Zeitungsseiten gesichtet und von Schublade zu Schublade wurde mir klarer, dass bei der Beschreibung dieser Pionierzeit der Comics, so wie sie in den Standardwerken erzählt wird, einiges im Argen liegt. Ein Autor schreibt vom anderen falsche Annahmen ab, die sich irgendwann zu vermeintlichen Fakten verfestigen. Vieles davon ist falsch und mir wurde bewusst, dass das ein Buch über die Frühphase des modernen Comic und die Zeit um 1900 im Allgemeinen werden würde. Dann fragte ich Tim, ob er seine Recherchen beisteuern mag, und so konnten wir viele Fragestellungen und Ungereimtheiten gemeinsam klären. Entsprechend opulent stellt es sich jetzt mit 472 Seiten und mehr als 650 Abbildungen dar.

In Deutschland ist Rudolph Dirks fast komplett vergessen. Es gibt kaum Literatur und Forschung zu dem Thema. Wie hat sich das auf eure Recherche ausgewirkt? Gab es Nachlässe und Material, die ihr zum ersten Mal habt sichten dürfen? Wie gut war das Material archiviert?

Es gibt nichts „Archiviertes”. Es gibt nur das, was private Sammler über die Jahrzehnte gerettet haben. Das ist wie ein riesiges Puzzle mit ganz vielen fehlenden Teilen. Das wird auch nie wieder vollständig werden, aber es gibt Passagen, die man rekonstruieren kann, wenn man einige wichtige Teile besitzt. Stell dir ein Tierpuzzle vor und du hast die Ohren und Barthaare einer Katze. Die Katze fehlt dir, aber du weißt dennoch, dass es an dieser Stelle eine Katze gegeben hat und kennst ihre Farbe. Die Misere fängt ja schon mit Rudolph Dirks selbst an, der kein Wert auf sein Artwork gelegt hat. 99 % seiner Zeichnungen wurden nach dem Drucken vernichtet. Außerdem ist die direkte Rudolph-Dirks-Linie kurz gewesen: Sein Sohn John hatte keine eigenen Kinder und Tochter Barbara hat nicht einmal geheiratet. Das heißt: Rudolph Dirks, John und Barbara Dirks, Schluss. John löste allen Hausstand vor seinem Tod auf und machte Anfang der 2000er-Jahre eine kleine Schenkung an das Museum in Heide. Dieses Konvolut besteht aber fast ausschließlich aus Arbeiten von John selbst.

An dein Buch sind zwei Ausstellungen angeschlossen, in Dortmund und in Heide. Was wird dort jeweils gezeigt? Gibt es verschiedene Schwerpunkte?

Als Heide von unserer Ausstellung in Dortmund erfuhr, haben sie beschlossen, parallel eine eigene Präsentation aus ihrem Sammlungsbestand einzurichten. Das hat Tim Eckhorst mit viel Liebe kuratiert. Heide hat ja den Ehrgeiz, den Aspekt, Dirks-Geburtsstadt zu sein, auf Dauer bei sich zu etablieren. Das ist sehr lobens- und unterstützenswert, zumal sie ja bereits ein sehr schönes Heimatmuseum besitzen. Problem dabei ist, dass ihnen mehr oder weniger das relevante Frühwerk fehlt, die Zeit vor und nach der Jahrhundertwende, genau das, was wir in Dortmund in verblüffendem Umfang und weitgehend lückenlos ab 1898 darstellen können. Heide bräuchte dringend museumswürdige Dirks-Werke, die die Innovationsleistung der Brüder Dirks besser dokumentieren. Die Innovationen im Comic haben früh stattgefunden. Wenn man erst in den 1940er/50er-Jahren einsetzt, als das Spätwerk in die Comic-Hefte hinüberspült bzw. John den Job von seinem Vater übernimmt, ist das zu spät. Allerdings: Artwork aus den frühen Jahrzehnten taucht nur alle Jubeljahre einmal auf und kostet dann fünfstellig. Auch historische Zeitungsseiten aus der Zeit sind nur sehr mühsam zu finden. Da müsste man also eine mittelfristige Strategie entwickeln, Netzwerke aufbauen und zum entscheidenden Zeitpunkt mit Kaufkraft ausgestattet sein.

Alexander Braun, Tim Eckhorst: Katzenjammer. The Katzenjammer Kids – Der älteste Comic der Welt • Avant-Verlag, Berlin 2022 • 472 Seiten • Hardcover • 59,00 Euro