Karriereziel Serienkiller

„Nailbiter“ von Joshua Williamson und Mike Henderson ist ein wirklich guter Horror-Comic über eine schlechte Angewohnheit.

Im ländlichen Buckaroo, fiktiv und irgendwo im ruralen Oregon, wütet der Wahnsinn. Nicht genug, dass mit dem titelgebenden Nailbiter ein mutmaßlich verrückter Serienmörder sein Unwesen treibt, 15 weitere Killer haben die Kleinstadt über Generationen hinweg zu einer Heimstatt des Bösen werden lassen. Darunter finden sich so klangvolle Namen wie der Pfeifer (trällert Lieder, während er tötet), der Buchpyromane (zündet Menschen in Bibliotheken an), der Stummfilmkiller (tötet Leute, die im Kinosaal quasseln) oder die schrecklichen Zwei (Zwillingsgeschwister, die andere Zwillingspaare töten). Allesamt ziemlich blutrünstig, wenngleich man für den Stummfilmkiller sicher etwas Verständnis empfinden mag, allerdings bleibt offen, wie schuldig der Nailbiter, Edward Charles Warren (er tötet Menschen, die an ihren Nägeln kauen), eigentlich ist, denn eine Jury hat ihn freigesprochen.

Der beurlaubte NSA-Agent Nicholas Finch (er hat bei einem Verhör etwas zu viel und zu tödliche Gewalt angewendet) wird von Eliot Carroll aus Buckaroo angerufen, der sagt, er habe herausgefunden, warum diese verfluchte Stadt 16 Serienkiller hervorgebracht habe. Als Finch dort eintrifft, ist Eliot Carroll aber bereits verschwunden, und zusammen mit Sheriff Crane sucht Finch nun nach Carroll und lernt die Stadt dabei besser kennen, als er sich wünschen könnte.

„Nailbiter“ ist Folk Horror, d. h. die Story spielt im „Hinterland“ und bedient sich des Gegensatzes zwischen Moderne und Tradition. Wer sich dafür näher interessiert, ist mit dem Podcast von Sebastian Bartoschek (Bartocast) ganz gut beraten, der sich dem Phänomen in mehreren Folgen intensiv widmet. Auch Alexanders Brauns Buch „Horror im Comic“ zur Ausstellung im Dortmunder Schauraum ist eine sinnvolle Ergänzung.

Das Grauen wartet im Hinterland. Das ist vor allem ein amerikanisches Phänomen, das den Gegensatz von urbaner Modernität und ländlicher Traditionalität abbildet. Wir kennen das aus diversen Horrorfilmen wie „Texas Chainsaw Massacre“ oder „The Hills Have Eyes“. Zugleich bedient „Nailbiter“ sich des wiederum typisch amerikanischen Phänomens der Serienmörder. Diese gibt es natürlich auch in anderen Ländern (Jack the Ripper, Haarmann), deren Popularität ist aber in den USA ausgesprochen groß: Charles Manson und Ted Bundy sind die Popstars unter ihnen. Wie Popstars werden ihnen oft Kunstnamen verliehen, man könnte fast von Künstlernamen sprechen. Wie passend, dass nicht nur der Nailbiter auch künstlerisch aktiv ist. „Nailbiter“ ist nun aber keine True-Crime-Geschichte, sondern bedient sich lediglich des Motivfundus, den die Wirklichkeit bietet. „Ich bin der Star“, stellt Warren fest, und er hat natürlich völlig recht, denn das Killerensemble in „Nailbiter“ ist ein bizarres Abbild der Aufmerksamkeitsökonomie, der alle unterworfen sind, die Studivz, Facebook oder Tiktok kennen.

In „Nailbiter“ präsentiert sich die Radikalisierung des Kapitalismus, der nicht davor haltmacht, Serienmorde zu monetarisieren. Während die Serienkiller symbolisches Kapital in Form von Aufmerksamkeit anhäufen, sammelt der Ladenbesitzer Raleigh ökonomisches Kapital, indem er Serienmörder-Memorabilia in einem abgewrackten Shop verkauft und eine Messe, die Killer Con, plant, sodass eine ganze Industrie aus den Morden entsteht. Noch mehr auf die Spitze getrieben wird dies von der schwangeren Mallory, die nach Buckaroo kommt, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen – in der Hoffnung, dass dieses sich zu einer Serienmörderberühmtheit entwickeln und ihre Popularität sich auch für die Mutter in barer Münze auszahlen würde: „Dann schreibe ich ein Buch.“ Denn vielleicht zahlen Verbrechen sich nicht aus, Bücher von Verbrecher*innen aber meistens schon, das wussten schon der Erpresser Arne Funke aka „Dagobert“ oder der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi. Gesunde Leser*innen werden Mallory als wahnhaft empfinden, aber das ist sie natürlich nicht – denn sie hat die Spielregeln bestens verstanden.

In einem Kapitel tritt der kahlköpfige Brian Michael Bendis auf und recherchiert für einen Comic in Buckaroo. In dieser Passage zeigt Williamson, dass er nicht nur spannend und intelligent, sondern auch sehr unterhaltsam erzählen kann. Bendis hat übrigens wirklich einen Serienkiller-Comic geschrieben, wenngleich die 1998 und 1999 veröffentlichte True-Crime-Story „torso“ nicht zu den Highlights aus Bendis‘ Bibliographie zählt.

Auch die sensationslüsterne Presse bekommt ihr Fett weg, immerhin trägt die Neugier der Journalisten nicht unbedingt zur Wahrheitssuche bei. Williamson wird sicherlich nicht an die groteske Allianz von Journalisten und Tätern im Fall Gladbeck gedacht haben, aber hierzulande gehört das sicherlich zur natürlichen Assoziationskette. Und ferner lässt Williamson es sich nicht nehmen, religiöse Eiferer in den Blick zu nehmen, die Sünden anmahnen und sie zugleich provozieren. Dabei darf schon die Frage aufkommen, ob der Ursprung des Bösen nicht doch die Boshaftigkeit ganz normaler Menschen ist.

Dem Zeichner Mike Henderson sind einige sehr ansehnliche und überraschende Sequenzen gelungen, wenngleich er offensichtlich kein Fahrradfahrer ist und Fahrradrahmen ihm entsprechend schwerfallen. Seine kantigen Gesichter erinnern manchmal an Sean Gordon Murphy, bleiben aber auf jeden Fall im Gedächtnis, nicht nur wegen der vielen Blutspritzer, sondern vor allem wegen der brutalen Szenen, die man lieber der Fantasie überlässt.

Dieser Auftaktband der „Murder Edition“ versammelt die ersten zehn Hefte der zwischen 2014 und 2017 bei Image erschienenen Serie. Zwischen 2016 und 2019 wurde die Story in drei Hardcoverbänden gesammelt, die nun bei dem schweizer Comic-Neuling Skinless Crow erscheinen. Spannend wird sein, ob auch die 2020 und 2021 veröffentlichte Fortsetzung „Nailbiter Returns“ einen Platz darin finden wird.

Joshua Williamson (Autor), Mike Henderson (Zeichner): Nailbiter – Murder Edition 1 • Aus dem Englischen von Katrin Aust • Skinless Crow, Bern 2023 • 248 Seiten • Hardcover • 42,50 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.