Bev Vincents Studie zu Werk und Leben Stephen Kings füllt eine Lücke – und ist ein wahres Füllhorn an Sekundärmaterial.
Arno Schmidt, der zugegebenermaßen abseits eines imposanten Schreibtischfleißes wenig mit Stephen King gemein hat, verkündete einst, „ein Schriftsteller lös[e] sich ja langsam auf, in seine Werke; den zurückbleibenden schäbigen Rest besieht man sich besser nicht.“ Dieser Ratschlag zielt allerdings eher auf den gewünschten Verzicht ab, einen lebendigen Autor leibhaftig in Augenschein nehmen zu wollen, denn laut Schmidt gilt ebenso, „daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß! Nichts kann wichtiger sein, als das betreffende große >Gehirntier˂ […] uns in allen Einzelheiten sichtbar zu machen; auf daß wir erfahren, aufgrund welcher geistigen und körperlichen Ökonomie (oder auch Nicht=Ökonomie), aufgrund welcher Anlagen und guten (bzw. schlechten) Eigenschaften & Angewohnheiten die betreffenden Höchstleistungen zustande gekommen sind […].“
Die Schriftsteller-Biografie darf demnach über das (ja faktisch weitgehend korrekte) „Da-sitzt-ein-Typ-von-morgens-bis-abends-am-Schreibtisch“ hinaus mindestens dort auf Privates, im engeren Sinn Biografisches schauen, wo das Private mehr oder weniger unmittelbar mit dem Werk verzahnt ist. Und umgekehrt: Das Schreiben ist (wie auch das Lesen) keinesfalls etwas „Weltfremdes“, dem Leben Entrücktes, womöglich gerade dann nicht, wenn man wie King ein populärer, von außerordentlich vielen Menschen gelesener Autor ist und durchaus Einfluss auf eine Menge anderer Biografien nimmt. Nicht umsonst trägt die deutsche Ausgabe von „On Writing: A Memoir of the Craft“ (2000), Kings eigenem Buch über sein eigenes Schaffen, den klugen Titel „Das Leben und das Schreiben“. (Nebenbei: Auch Arno Schmidt war es enorm wichtig, sein Lesepublikum zu unterhalten, auch wenn ein erster flüchtiger Blick in seine Bücher das vielleicht nicht nahelegen mag.)
Letztes Jahr hat Sven Hanuscheks Schmidt-Biografie das große Gehirntier auf fast 1000 Seiten uns in allen Einzelheiten sichtbar gemacht und damit eine Lücke gefüllt. Eine ähnliche Lücke klaffte hierzulande auch, wenn es um Stephen King geht. Zwischendurch erscheinen zwar ihm gewidmete Monografien, Essays und Interviews, doch die sind entweder schon amtlich alt und vergriffen (wie George Beahms „Stephen King: Leben und Werk“ von 1995 und der von Tim Underwood und Chuck Miller herausgegebene Gesprächsband „Angst pur“ von 1990) oder altern auch dann, wenn sie noch viertelwegs frisch sind, vergleichsweise schnell (wie Uwe Antons „Wer fürchtet sich vor Stephen King?“ von 2010) – schlicht deshalb, weil zehn vergangene Jahre in ungefähr zwanzig neue King-Bücher umzurechnen sind. Dessen ist sich auch der US-amerikanische Autor und Literaturkritiker Bev Vincent bewusst, dessen Bildbiografie „The Stephen King Illustrated Companion“ ihrerseits inzwischen vierzehn Jahre auf dem Buckel hat. Kings 75. Geburtstag im Jahr 2022 nahm Vincent daher zum Anlass, eine erheblich überarbeitete und erweiterte (= doppelt so umfangreiche) Neufassung seines Begleitbuchs zu veröffentlichen, deren deutsche Ausgabe jetzt endlich unter dem Titel „Stephen King. Sein Werk, sein Leben, seine Inspiration“ in der Zürcher Edition Olms erschienen ist. Der Teaser-Text auf dem Rücktitel verspricht ein „Referenzwerk“ sowie „zahlreiche noch unbekannte Fakten“ auch für hartgesottene King-Fans, und er verspricht kein bisschen zu viel.
Bev Vincent hat sich im Rahmen seiner King-Forschung ausführlich mit der Roman-Reihe um Roland Deschain und dessen Suche nach dem Dunklen Turm beschäftigt: 2005 erschien „The Road to The Dark Tower“, 2013 „The Dark Tower Companion“. Er ist in dem hübschen Band „Reading Stephen King“, einer Sammlung von Leseerlebnissen prominenter constant readers Kings wie Frank Darabont, Richard Chizmar, Jack Ketchum, Mick Garris oder Clive Barker (erschienen 2017 bei Cemetery Dance Publications, herausgegeben von Brian James Freeman) mit einem Essay über Stephen King als Kriminalliterat vertreten („Living in a Web of Mystery“). Dafür, dass er zum engeren Kreis der Vertrauten gehört, spricht nicht zuletzt die von King und ihm gemeinsam kuratierte, schwachpunktfreie Kurzgeschichten-Anthologie „Flug und Angst“ (2019), Luftreisen-Horror von Arthur Conan Doyle über Richard Matheson, Ray Bradbury und Joe Hill bis zu Bev Vincent („Zombies im Flugzeug“) sowie Stephen King („Ein Fachmann für Turbulenzen“). Außerdem wird er inzwischen nicht nur über, sondern gar von Stephen King interviewt.
Vincents große Coffee-Table-Studie belegt eindrucksvoll, dass dem Autor großzügiger Zugriff auf Kings private Archive gewährt wurde. Das üppige Bildmaterial umfasst neben den Covern von Originalausgaben selten bis nie gesehene Fotos aus sämtlichen Lebensabschnitten, Gedicht-Typoskripte, Briefe an Lektoren oder Fans, Stills aus Film- und Fernsehadaptionen und Handgeschriebenes – selbstverständlich stets im Dienst der Verzahnung des Persönlich-Biografischen mit dem literarischen Schaffen. Im Untertitel steht das „Werk“ dementsprechend klugerweise an erster Stelle; „Leben“ und „Inspiration“ (im Sinne der originalsprachigen influences) folgen in ebenjener Reihung, die dem Konzept dieser illustrierten Biografie ebenso gerecht wird wie dem in der Einleitung auf Seite 9 formulierten Diktum: „Er [Stephen King] ist sui generis, eine Kategorie eigenen Rechts.“
Die Großkapitel bewegen sich dabei grundsätzlich in Dekaden-Schritten chronologisch am Werk, sprich: den Büchern entlang. Deren Genesen und Eigenarten werden bei Bedarf um reichlich O-Ton ihres Verfassers aus zahlreichen Interview-Quellen und biografische Fakten bzw. Anekdoten ergänzt. Üppigere Einschübe sind Kings Lyrik (eine Werkgruppe, die in summa offenbar gar nicht mal so schmal oder unbeholfen ausfällt, wie man eventuell gedacht hätte), dem Autoren-Alter-Ego Richard Bachman, dem Romanzyklus vom „Dunklen Turm“, den Topografien der immer wieder als Zentren von Kings Welten funktionierenden fiktiven Neu-England-Kleinstädte Castle Rock und Derry, besonders spektakulären und raren Sammlerausgaben oder dem furchtbaren Unfall gewidmet, welcher King im Juni 1999 fast das Leben gekostet hätte. Das letztgenannte Kleinkapitel ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie Bev Vincents Blick – trotz quälend drastisch-detaillierter Befundschilderung der Unfallfolgen – nie ins Voyeuristisch-Boulevardeske abgleitet, sondern sich unverzüglich auf den Niederschlag eines derart einschneidenden Erlebnisses im Werk richtet.
Dazwischen informieren Kästen über Kings Lektor Bill Thompson (den man getrost als seinen Entdecker bezeichnen darf), den dunklen Mann Randall Flagg, das Gelegenheits-Spaß-und-Benefiz-Bandprojekt Rock Bottom Remainders (Mitgründer Dave Barry beschreibt das musikalische Genre der Band als „schwer anzuhören“), die Dichte von Schriftstellerfiguren in Kings Romanen und Kurzgeschichten, die Lust am Experimentieren mit Veröffentlichungsformaten, Ehrungen und Preise, die Liebe zum Baseball, Gemeinschaftsarbeiten (z. B. mit Peter Straub, Richard Chizmar oder den Söhnen Owen und Joe) und Kings Nebentätigkeiten als Kolumnist und Radio-Talkshow-Host.
Alles ist das noch lange nicht. Vermutlich wussten auch etliche der treuesten constant readers bislang nicht, dass sich der gemarterte Schriftsteller Paul Sheldon der Theaterfassung von „Sie“ auf der Bühne in der körperlichen Gestalt von Bruce Willis materialisierte. Sie lasen womöglich nie den in den 1980ern entstandenen, vom Autor lange Zeit verschollen geglaubten Rumpfroman „The Cannibals“, dessen erste 120 Seiten online gestellt wurden. Und sie hören wahrscheinlich zum ersten Mal von jenem Polaroid-Foto eines Teddybären, das King von einem ungeduldig auf neue „Dark Tower“-Romane wartenden Fan geschickt bekam und mit der erpresserischen Note versehen war: „Veröffentliche Sofort Den Nächsten Band von Der Dunkle Turm, oder Der Bär Stirbt.“ Schließlich wäre es auch keinesfalls unschicklich oder allzu devot-panegyrisch gewesen, die Sache mit Harold „Ich finde in Kings Schreiben keinerlei ästhetische Würde“ Bloom wegzulassen. 2003 wurde Stephen King die Medal of Distinguished Contribution to American Letters des National Book Award verliehen, worüber sich der 2019 verstorbene Großkritiker und Kanon-Kämpfer Bloom furchtbar aufregte und in der Entscheidung „einen weiteren Tiefpunkt in der schockierenden Verdummung unseres Kulturlebens“ sah, um im selben Atemzug und Aufwasch lediglich vier aktive US-amerikanische Schriftsteller (Thomas Pynchon, Don DeLillo, Cormac McCarthy und Philip Roth) für lesenswert zu halten – damit verratend, es im Grunde gar nicht so sehr auf Kings Bücher abgesehen, sondern generell mit allem, was auch nur entfernt nach populärer Kultur riecht, nichts am Hut zu haben. Die von Bev Vincent eingebauten Kästchentexte „Harold Bloom über Stephen King“ und „Stephen King über Harold Bloom“ haken die kleine Affäre (die immerhin etwas deutlich Größeres zur Sprache bringt, nämlich jenes anstrengend hartnäckige Ressentiment, das so liebend gerne hohe Kunst gegen Schund ausspielt) kurz und knackig ab, einschließlich der aufrichtig entspannten Reaktion Kings.
Wie früh Stephen King mit dem Schreiben begann (schon als Kind), wie viel Praxis er sich bis zum Romandebüt „Carrie“, das offiziell als Startpunkt seiner Schriftstellerkarriere gilt, bereits draufgeschafft hatte und demnach seine Leidenschaft bereits in jüngsten Jahren zur Blüte brachte, einschließlich der ihrerseits früh getroffenen Entscheidung, von dieser Leidenschaft leben zu wollen (also: ein vielgelesener, populärer Autor zu werden); wie erheblich der Anteil seiner bis heute unverminderten Produktivität auf Ideen bzw. Rohentwürfe und Erstfassungen aus den 1970er Jahren zurückgeht: das sind vielleicht die zwei erstaunlichsten Offenbarungen, die diese Bildbiografie selbst King-Allesfressern zu bieten hat. Auch spätere Werke wie „Die Arena“ (2009) oder „Der Anschlag“ (2011) wurden vor vierzig oder fünfzig Jahren begonnen oder zumindest angedacht, was Kings 2015 im Interview mit dem Rolling-Stone-Magazin getätigte Äußerung verifiziert: „Ich erinnere mich, dass ich schon als Student Kurzgeschichten und Romane schrieb […]. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde explodieren. Es gab so viele Dinge, über die ich gleichzeitig schreiben wollte. Ich hatte so viele Ideen, die sich gegenseitig in die Quere kamen.“
Abgeschlossen wird dieses ultrasüffig und uneitel geschriebene, bodenlose Füllhorn an King-Sekundärmaterial durch eine Auswahlbibliografie sowie drei nützliche Anhänge; Anmerkungen und Bildnachweise verstehen sich von selbst. Noch dazu laden der robuste, gut handhabbare Buchkörper und die verspielte, aber nie unübersichtliche Gestaltung ein, Bev Vincents Stephen King immer wieder aus dem Regal zu ziehen. Legt man noch Dietmar Daths „Stephen King. 100 Seiten“ (Reclam 2022) daneben, hat man gewissermaßen schon einen kompletten King-Handapparat auf dem Tisch, einen monströsen Spaß und weiß außerdem einiges mehr darüber, wie die „betreffenden Höchstleistungen“ (s. o.) zustandegekommen sind.
Diese Kritik erschien zuerst am 18.10.2023 auf: DieZukunft.de
Bev Vincent: Stephen King. Sein Werk, sein Leben, seine Inspiration • Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Auwers • Edition Olms, Zürich 2023 • Hardcover • 240 Seiten • € 29,95
Sven-Eric Wehmeyer ist Übersetzer, freier Redakteur, Autor und Comic-Experte. Für Random House hat er u. a. mehrere Romane Stephen Kings und Richard Laymons ins Deutsche übertragen.
Abb. oben aus „Bev Vincent: Stephen King. Sein Werk, sein Leben, seine Inspiration“ (Edition Olms)