Der Heilige Gral und eine renitente englische Dame

„Ohne Furcht und Tadel“ ist Neil Gaimans ganz spezielle Modernisierung der Artus-Sage. Colleen Dorans Comicadaption wurde erst kürzlich mit einem Eisner Award ausgezeichnet.

Solche Tage soll es ja geben: Da geht man nichtsahnend in einen Secondhandladen, um sich eine Kleinigkeit zu gönnen, und findet mal eben den Heiligen Gral. Noch dazu zum Spottpreis. So passiert es der rüstigen Dame namens Mrs. Whitaker irgendwo in England. Zu Hause reinigt sie das Gefäß, das eher durch schlichte Eleganz als durch Opulenz besticht (aber das wissen wir ja spätestens seit „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“), und stellt es als Deko auf den Kamin. Ende der kuriosen Story? Nein. Denn dann klingelt es an Mrs. Whitakers Tür. Vor ihr steht samt Pferd ein edler Ritter in schimmernder Rüstung, der sich als Sir Galahad von der Tafelrunde vorstellt. Und der von König Artus höchstselbst beauftragt wurde, den Gral zu finden.

Galahad, Ritter Lancelots Sohn, ist sogleich sichtlich betört von dem heiligen Kelch auf dem Kaminsims, wird dabei aber schnell ausgebremst. Denn Mrs. Whitaker möchte das unschätzbar wertvolle Artefakt behalten und schlägt den Handel – Galahad verspricht ihr Gold – freundlich aber bestimmt aus. Doch der Ritter lässt nicht locker und wird bald darauf wieder bei der alten Dame vorstellig, diesmal mit noch etwas Wertvollerem im Gepäck, das er ihr im Tausch gegen den Gral anbietet. Nämlich das prächtige, mythische Schwert Balmung, hergestellt von Wieland dem Schmied. Aber – das vorweg – auch dies wird nicht Galahads letzter Besuch bei Mrs. Whitaker bleiben…

Bild aus „Ohne Furcht und Tadel“ (Splitter Verlag)

Nach „Snow, Glass, Apples“ veröffentlicht der Splitter Verlag mit „Ohne Furcht und Tadel“ eine weitere Comic-Adaption einer Kurzgeschichte Neil Gaimans, die von Colleen Doran gezeichnet wurde (sie war auch schon an der „Sandman“-Serie beteiligt). Das wieder im Rahmen der „Neil Gaiman Bibliothek/Library“, von der aktuell auch diverse Titel beim Dantes Verlag vorliegen. Die Story ist freilich reichlich skurril. Das beginnt bei dem unspektakulären Gralsfund (und Mrs. Whitaker weiß sofort, was sie da vor sich sieht) und endet beim Auftauchen des Gralsritters Galahad, der buchstäblich aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Und niemand stört sich an den seltsamen Begegnungen, niemand wundert sich. Man bleibt vielmehr britisch höflich und verhandelt.

Neil Gaimans Kurzgeschichten muten oftmals an wie kleine gekonnte Fingerübungen: Er greift auf Alltägliches und Bekanntes zurück, vermischt oder kombiniert es mit phantastischen Motiven und dreht so erfolgreich an unerwarteten Stellschrauben, wodurch etwas ganz Neues entsteht, meist in Verbindung mit einem Perspektivwechsel (wie Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Lovecrafts Kreaturen in „Eine Studie in Smaragdgrün“). Hier sind das eine verwitwete Rentnerin und ein Ritter der Tafelrunde. Im Original heißt die gleichsam humor- wie gefühlvolle Story „Chivarly“ (die jüngst einen Eisner-Award gewann), also Ritterlichkeit. Wer wird hier ritterlicher sein und am Ende nachgeben?

Im Gegensatz zu „Snow, Glass, Apples“ schlägt Colleen Doran hier sanftere Töne an, was die Optik betrifft. Ihre Zeichnungen erscheinen zart und fein, in einem butterweichen Aquarell-Stil gehalten, immer wieder von ganzseitigen ornamentalen Tableaus durchzogen. Die Gespräche zwischen Galahad und Mrs. Whitaker stehen im Fokus – sie erzählt vom Krieg und ihrem Mann, er von seiner Familie. Am Schluss gibt’s noch einen feinen, verschmitzten Gag, ehe Colleen Doran im Anhang näher auf die Entstehung des Bandes eingeht (etwa die künstlerischen Einflüsse oder die penible Recherchearbeit, die durch COVID massiv erschwert wurde), gefolgt von einigen Skizzen und Entwürfen. „Die Trollbrücke“, eine weitere Gaiman-Adaption von ihr, erscheint im September.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Neil Gaiman (Autor), Colleen Doran (Zeichnerin): Ohne Furcht und Tadel • Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • 19,80 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.