Scary Tales

Bild aus "Rotwölfchen" (Toonfish)

Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm werden für jede Generation neu erzählt – neben den verniedlichten Pixi-Buch-Versionen gibt es auch Neuerzählungen für Diabetiker*innen. Schon Wilhelm Grimm überarbeitete die Märchen zu Lebzeiten so oft und gründlich, dass das Nebeneinander der vielen Fassungen, na ja, unübersichtlich ist.

Reichlich grausam ging es in den Märchen zu, die Jacob und Wilhelm Grimm nicht er-, sondern bloß vorfanden, schriftlich fixierten und dann beherzt veränderten. Die Märchen, deren Ursprünge weiter zurückliegen als die Sammelleidenschaft der beiden Brüder, gehören seither zum Kanon der Geschichten, die wir unseren Kindern erzählen. Kein Wunder: Sie sind so lehrreich wie auch unterhaltsam.

Neil Gaiman (Autor), Colleen Doran (Zeichnerin): „Snow, Glass, Apples“.
Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 64 Seiten. 19,80 Euro

Bei Splitter bzw. dessen Nachwuchs-Imprint Toonfish sind in der ersten Jahreshälfte drei märchenhafte Comics erschienen, die ein wenig unter dem Radar fliegen, vermutlich auch, weil zwei von ihnen sich eben an Kinder und Jugendliche richten.

Snow, Glass, Apples

Colleen Doran und Neil Gaiman haben Grimms „Schneewittchen“ vollständig auf links gedreht: Anstatt der Perspektive des verstoßenen und verfolgten Schneewittchens zu folgen, blicken wir der bösen Stiefmutter über die Schulter. Täterperspektive, könnte man meinen, aber man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Bei den Grimms zeugen König und Königin ein Kind, bevor die Mutter an ungenannter Ursache verstirbt. Die böse Stiefmutter ist natürlich dem Kind weniger wohlgesinnt als dem König, und so lässt die Eifersüchtige ihre Stieftochter umbringen. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Ein Jäger soll das Mädchen töten, bringt es aber nicht übers Herz und liefert als fingierten Beweis seiner Tat Lunge und Leber nicht des Mädchens, sondern eines Wildschweins ab. Die Königin lässt sich das Fleisch à la Meiwes zubereiten und verspeist es.

Tatsächlich ist Schneewittchen bei den sieben Zwergen in Sicherheit, bis die Königin („Spieglein, Spieglein“) dies bemerkt. Mehrfach besucht sie das Versteck, und nur den Zwergen ist es zu verdanken, dass Schneewittchen die ersten Attentate überlebt. Der dritte Anschlag (mit berühmtem Apfel) verläuft erfolgreich, aber Prinz-sei-Dank wird sie gerettet und dann dessen Frau. Zur Feier wird natürlich auch die Stiefmutter eingeladen, weniger zum Feiern, sondern eher zum Feuern: „Es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“ Das steht so nicht in der Pixi-Variante.

Seite aus „Snow, Glass, Apples“ (Splitter Verlag)

Gaimans Veränderungen sind sehr pointiert. Am Tod der Mutter, so die Erzählstimme, sei Schneewittchen schuld: „Ich weiß nicht, was sie eigentlich ist. Das weiß niemand von uns. Sie hat bei der Geburt ihre Mutter getötet.“ Der König findet bald eine neue Frau, heiratet sie und pflegt sozialen Austausch, der eigentlich nur in ausschweifendem Sex besteht. Und bei Doran sieht man Fleisch, wo es Sex gibt, und Blut, wo der Tod lauert. In der Explizitheit und Drastik ist das von den Grimms gar nicht so weit entfernt.

Die Tochter, Schneewittchen, wird von der Stiefmutter lange Zeit in entlegenen Schlossgemächern isoliert, bis sie sich schließlich doch über den Weg laufen. Die Stiefmutter begegnet ihr zärtlich, fürsorglich, mütterlich, aber das etwas eigenartige und auffallend blasse Mädchen dankt es ihr nicht: „Dann senkte sie ihre Zähne in meinen Daumenballen, den Venushügel, bis Blut floss.“ Schneewittchen also ein Vampir? Vielleicht.

Nach dem Tod des Königs versucht die Stiefmutter, die Tochter töten zu lassen, aber vergeblich: Das Mädchen überlebt im Wald. Da die Stieftochter den Landfrieden bedroht, kann die Königin nicht anders, als es erneut zu versuchen, und als sie Schneewittchen einen vergifteten, in Blut getränkten Apfel unterjubeln kann, geht ihr Plan endlich auf. Ein fetischfixierter Prinz, der zuvor die Königin liebte, findet die leblose Frau im gläsernen Sarg unglaublich anziehend. Er rettet sie, und gemeinsam rächen sie sich nun an der Stiefmutter: Während ihrer Hochzeit wird die Gefangene bei lebendigem Leib verbrannt: „Sie bekommen meinen Körper, doch meine Seele und meine Geschichte gehören mir und sterben mit mir.“

Seite aus „Snow, Glass, Apples“ (Splitter Verlag)

Neil Gaiman konzipierte die Kurzgeschichte ursprünglich 1994 im Laufe einer Nacht, wie er selbst sagt, um ein Märchen zu schreiben, dass einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen solle, wie Grimms Märchen dies vermutlich einmal taten (nota bene: sie tun es immer noch). Colleen Doran („A distant Soil“) setzte die Geschichte 2019 für Dark Horse als Comic um. 2020 gewann dieser Comic einen Eisner Award als „Best Adaptation from Another Medium“. Nach „Troll Bridge“ (2016, übrigens die Vorlage für Kai Meyers „Speichermann“) ist dies ihre zweite Zusammenarbeit bzw. die zweite Bearbeitung einer Gaiman-Story.

Neil Gaiman hat sich durch seine Romane und Comics bereits als einfallsreicher wie routinierter Erzähler verdient gemacht, die amerikanische Zeichnerin Colleen Doran hingegen ist hierzulande noch unentdeckt. Für „Snow, Glass, Apples“ (der Titel zählt drei Kernmotive des Märchens auf) hat sie sich eines sehr besonderen Stils bedient, der durch seine Arrangements und die klaren wie kräftigen Konturen an Hinterglasmalerei des Jugendstils erinnert. Doran selbst führt den irischen Glasmaler und Illustrator Harry Clarke als Inspiration ins Feld. Die meist ganzseitigen Abbildungen schwelgen in bombastischer Ornamentik, und oft genug ist das Dekorum schwer von den dargestellten Figuren zu trennen. Wenn die Farben manchmal ins Kitschige abgleiten, ist das durchaus auch als Reminiszenz an die Maßlosigkeit der Jugendstilkünstler zu verstehen.

Mag die Drastik der Gewaltszenen auch an das Kinder- und Hausmärchen erinnern, ist „Snow, Glass, Apples“ doch sicher nicht für Kinder geschrieben worden. Alle anderen dürften ihre Freude an diesem ungewöhnlichen Perspektivwechsel und den Horror-Elementen haben.

Amélie Fléchais: „Rotwölfchen“.
Aus dem Französischen von Anne Bergen. Toonfish, Bielefeld 2021. 80 Seiten. 19,95 Euro

Rotwölfchen

Der Ursprung von „Rotkäppchen“ lässt sich bis in die französische Märchensammlung von Charles Perrault (1628-1703) zurückverfolgen. Wie schon bei „Snow, Glass, Apples“ wird das Märchen im Comic neu und anders erzählt, allerdings nicht durch einen Perspektivwechsel, sondern mit einem Rollentausch. Ein Wolf zwar nicht im Schafspelz, aber im Rotkäppchen-Dress. Dieser unschuldige Wolf, sehr frei nach Hobbes, ist dem Menschen ein Mensch.

In den ersten beiden der insgesamt fünf Kapitel hält Amélie Fléchais sich, abgesehen von der plötzlichen Verwolfung, recht eng an das Original. Ganz allmählich aber emanzipiert sich der Comic, etwa als es um Rotkäppchens Schuld geht: Bei den Grimms trödelt sie trotz der elterlichen Mahnung und lässt sich dann auch noch von einem fremden Wolf dazu verleiten, tiefer in den Wald zu gehen, als es ihr erlaubt ist (psychologischen Interpretationen stehen Tür und Tor weit offen…). Bei Fléchais besteht das wölfische Vergehen in seiner Überheblichkeit („Ich bin mir sicher, dass ich meinen Weg ganz allein finden werde, auch ohne diesen blöden Pfad!“) und Gier, als sie das der Großmutter zugedachte Kaninchen frisst.

Dann lässt Fléchais das Wölfchen, wie könnte es anders sein, einem Mädchen begegnen, das dem verzweifelten Jungtier frische Kaninchen in Aussicht stellt: „Ich kann dir eins geben, dann wirst du nicht ausgeschimpft.“ Die listige Jägerstochter überlistet das leichtgläubige Wölfchen und sperrt es in einen Käfig, der „Ähnlichkeit mit einer dicken Frau“ hat – eine gewitzte Anspielung auf das Rotkäppchen im Wolfsbauch. Natürlich wird das Rotwölfchen befreit, allerdings nicht von einem Jäger, sondern von seinem Vater.

Seite aus „Rotwölfchen“ (Toonfish)

Nun sind Märchen ja in der Regel einfach gestrickt: Die Figuren haben wenig biografische oder psychologische Tiefe, deren Motivationen liegen entweder auf der Hand oder gar nicht, Gut und Böse sind nicht Gegenstand philosophischer Erörterung, sondern unveränderlich und schon an Äußerlichkeiten abzulesen. Gar nicht so viel anders als in Superheldengeschichten des Golden Age. „Rotwölfchen“ ist aber kein typisches Märchen, und unter dem roten Cape verbirgt sich auch keine Superheldin erster Stunde. Sowohl Rotwölfchen als auch die Jägerstochter haben eine Vorgeschichte, und um die Lektüre noch ein wenig spannender zu machen, wird diese gleich mehrfach erzählt: aus der Perspektive der Jägerstochter und aus der des Wolfsvaters.

Beginnt das Märchen als harmlose Umerzählung eines bekannten Stoffes, wird die Geschichte von Kapitel zu Kapitel eigenständiger und widerspruchsvoller. Die Zeichnungen orientieren sich in der Physiognomie der Figuren zwar an großäugigen Kinderbuchvorbildern, sind aber so abwechslungsreich und kunstvoll, dass der Genuss nicht Kindern vorbehalten sein sollte. Ein Highlight sind die Rückblenden am Schluss, die Fléchais in Grau- und Brauntönen aquarelliert.

Dass die Textelemente etwas gleichmütig in die ganzseitigen Bilder gesetzt sind, ist nicht besonders ansprechend – man kann die Geschichte übrigens auch sehr gut verstehen, wenn man die Texte völlig ignoriert. Der Comic erschien zuerst 2014 in Frankreich (Ankama), 2016 dann auf Englisch. „Rotwölfchen“ ist der erste Comic von Amélie Fléchais, der es auf den deutschen Markt geschafft hat. Ihren anderen Comics, „Chemin perdu“ (2013), „L’Homme Montagne“ (2015) oder „Bergères guerrières“ (1-3, seit 2017) wäre dies auch zu wünschen.

Ingrid Chabbert (Autorin), Léa Mazé (Zeichnerin): „Elma – Ein Bärenleben“.
Aus dem Französischen von Anne Bergen. Toonfish, Bielefeld 2021. 88 Seiten. 19,95 Euro

Elma – Ein Bärenleben

Aller guten Dinge sind drei, erst recht im Märchen. Während „Snow, Glass, Apples“ durch seine eher an Erwachsene adressierte Drastik herausragt, „Rotwölfchen“ durch seinen Twist, so sticht „Elma“ hervor, weil es nicht aus dem Kanon der Brüder Grimm stammt, sondern selbst ein Original ist.

Elma ist ein junges Mädchen mit blauen Haaren, das im Wald bei einem Bären mit blauem Fell lebt: „Papa Bär“ nennt sie ihn, er ist aber nicht ihr biologischer Vater. Eines Abends besucht ein Fuchs den Bären und verkündet in märchenbewusster Arithmetik: „Die sieben Jahre sind vorbei.“ Vor sieben Jahren wurde Elma geboren, und Papa Bär nahm sie bei sich auf. Einer Prophezeiung zufolge, die zunächst nur Papa Bär kennt, muss Elma zu ihrem achten Geburtstag wieder zurück in ihre Dorfgemeinschaft gebracht werden. Sie machen sich auf den Weg. Ihre Reise ist voller Abenteuer: ein reißender Fluss, plötzlicher und anhaltender Sturzregen. Elma stellt fest: „Man könnte glauben, die Welt geht unter…“, aber Papa Bär sagt, was Eltern halt so versprechen: „Ich verspreche dir, alles wird gut.“ Zu diesem Zeitpunkt wurde Papa Bär bei einem Unfall mit einem Baumstamm verletzt. Es wird nicht sein letztes Unglück werden. Nichts wird gut. Ende des ersten Kapitels.

Seite aus „Elma“ (Toonfish)

Papa Bär verrät seiner Adoptivtochter nichts über den Zweck ihrer Reise, und auch wir Leser*innen tappen im wunderschön gezeichneten Halbdunkel und staunen über die Abenteuer. Nicht nur das Wetter erweist sich als widriges Hindernis, sondern es scheint auch echte Widersacher zu geben, wenngleich diese in seltsamer Gestalt erscheinen: als Wasserwesen. Papa Bär kann nicht länger an sich halten, seiner Ziehtochter die ganze Geschichte zu erzählen: „Das gesamte Königreich ist in Gefahr: Es wurde mit einem Fluch belegt. Wir alle. Die Wasser trachten danach, die Welt zu verschlingen. Und die Prophezeiung besagt, dass nur Friggas Tochter sie retten kann.“ Das ist natürlich Elma. Im zweiten Kapitel entwickelt die Geschichte, die als abenteuerlich-unterhaltsame Road Story beginnt, sich zu einer Fantasy-Erzählung mit eindringlicher Familienproblematik: „Ich habe mir ausgesucht, dich zu lieben, als wärst du mein eigen Blut.“

Angesichts der im Märchen meist stereotyp als böse verunglimpften Stiefeltern (bzw. meist Stiefmüttern) wie in „Hänsel und Gretel“, „Frau Holle“ oder „Schneewittchen“ fordert Szenaristin Ingrid Chabbert („Waves“, 2019) die Märchenkonventionen ein wenig heraus, nicht zuletzt durch widerstreitende Erzählungen von Elmas Geburt – gar nicht sehr anders übrigens als Fléchais in „Rotwölfchen“.

Dass „Elma“ ein ausgesprochenes Lesevergnügen ist, verdanken wir auch der beeindruckenden visuellen Umsetzung durch die französische Künstlerin Léa Mazé. Kein Wunder, dass „Elma“ und seine Künstlerin 2020 für zwei Eisner Awards (Best Digital Comic, Best Painter/Digital Artist) nominiert worden sind. „Elma – Ein Bärenleben“ wurde zuerst 2018 und 2019 in zwei Bänden bei Dargaud veröffentlicht und wurde von der französischen Kritik sehr positiv aufgenommen. Toonfish veröffentlicht die Geschichte sinnigerweise in einer Gesamtausgabe.

Was lernen wir aus diesen Comics? Zunächst einmal Misstrauen, weil Perspektiven sich nun einmal unterscheiden und Erzählungen immer auch ein Interesse verfolgen. Indem diese drei Comics auf unterschiedliche Art und in unterschiedlichem Maße auf die Macht und die Verführbarkeit von Erzählungen hinweisen, bedienen sie als moderne Märchen ein Kernthema unserer Zeit.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Elma“ (Toonfish)