Aus dem Bilderfundus längst vergessener Messdiener-Magazine hat Regisseur, Autor und Comiczeichner Wenzel Storch die Fotocomic-Sammlung „Das Ei des Kolumbus“ gezimmert – ein verstörendes Vergnügen.
Dass es in den Nachkriegsjahrzehnten Messdienerzeitschriften gab, die sich mit dem romantisch verklärten, aber auch auf rätselhafte Weise anzüglich wirkenden Alltag katholischer Ministranten befassten, war mir bislang verborgen geblieben. Dass ich es nicht bereue, jetzt doch noch mit diesem verstörenden Genre konfrontiert worden zu sein, liegt daran, dass ich den ehemaligen Messdiener Wenzel Storch – Filmemacher und Schriftsteller – ohnehin sehr schätze. Zusammen mit dem „Titanic“-Autor Gerhard Henschel (der mit Wiglaf Droste die zwei schönen Romane um die hinreißende Kommissarin Güzel schuf!) bastelte er aus den teilweise haarsträubenden Abbildungen jener Hefte Fotoromane im „Bravo“-Stil, deren Vertextungen in ihrer Zitierfreudigkeit sehr an Storchs Filme erinnern. So werden den Kirchenmännern und ihren Schäfchen Worte von Goethe, Schiller und Ginsberg in den Mund gelegt, aber auch andere Leihgaben, die sich bei Pop & Rock, Donald Duck, Sponti-Sprüchen und längst vergessenem Jugendslang von einst bedienen.
Ich musste nach den ersten beiden Fotoromanen die Lektüre kurz unterbrechen und mich sammeln, da mich die Intensität der wahrhaft schauerlichen Knabenbilder plättete. Als ich den Modus Operandi von Storch und Henschel aber verinnerlicht hatte (der sehr auf ein im besten Wortsinne himmelschreiendes Missverhältnis zwischen Wort und Bild baut), konnte ich den Rest genießen, auch wenn der Magen gelegentlich gluckste. Wer nach unkomplizierter Bespaßung sucht, sollte die Finger von „Das Ei des Kolumbus“ lassen. Das Buch beißt, das Buch tut weh. Alles andere wäre dem schmerzhaften Thema auch nicht angemessen. Es erschöpft sich nicht in plumpen Blasphemien, sondern bettet die verblendete und verschwiemelte Kindermystik von Magazinen wie „Guckloch“ oder „Leuchtfeuer Ministrant“ (!) in einen kulturhistorischen Kontext, der durchaus erhellend ist. Man sollte aber keine feinsinnig-ironische „Entlarvung“ dieses sehr speziellen Undergrounds erwarten. „Das Ei des Kolumbus“ ist rabiat, es ist derb, es geht voll auf die Zwölf. Es ist aber gleichzeitig gewissenhaft in Konzept wie Ausführung und setzt dem trügerisch idyllischen Irrglauben der frommen Kindsverkitscher von einst einen befreiend undisziplinierten Ansatz entgegen, den ich sehr erfrischend fand. Ich ziehe die Zehn – pax vobiscum!
Wenzel Storch, Gerhard Henschel: Das Ei des Kolumbus. Römisch-katholische Fotoromane • Martin Schmitz Verlag, Berlin 2024 • 128 Seiten • Hardcover • 30,00 Euro
Christian Keßler, Jahrgang 1968, studierte Germanistik und Amerikanistik in Göttingen und Oldenburg. Neben seiner fast 20 Jahre währenden Arbeit für das Berliner Filmmagazin Splatting Image verfasste er zahlreiche Texte für internationale Publikationen. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen Werke über den italienischen Western oder das amerikanische Hardcore-Kino der 70er Jahre. Außerdem ist er der geistige Vater des überaus sonderbaren Kommissars Ernst, der in Keßlers Heimatstadt Bremen ermittelt. Allein im Martin Schmitz Verlag erschienen bis heute zehn Bücher, zuletzt „Bleigewitter über Cinecittà. Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984“.