Ein Sammelband mit gezeichneten Gesprächen über den 7. Oktober 2023. Wie veränderte er das (Zusammen-)Leben von Juden und Muslimen in Deutschland?
Der Erziehungswissenschaftler und Historiker Meron Mendel beschreibt in seinem Buchessay „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ die Spaltung der deutschen Linken in „Antideutsche“ und „Antiimperialisten“ und wie deren diametral entgegengesetzten Positionierungen zum Nahostkonflikt ihre jeweilige Gruppenidentität befestigt. Diese Form der inneren Entzweiung des linkspolitischen Lagers ist zwar eine deutsche, durch den Umgang mit der eigenen Geschichte bedingte Besonderheit. Doch auch sonst dominieren Projektionen und (Ab-)Spaltungen die Diskurse und Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt. Während die politische Rechte den Anschlag der Hamas am 7.10.2023 nutzt, um antimuslimische Ressentiments zu befeuern und zugleich den Antisemitismusvorwurf auf Muslime und Linke umzulenken, stehen die liberalen Demokratien in Europa angesichts ihres Schweigens zu den drastischen militärischen Reaktionen Israels im Verdacht, bezüglich der Geltung von Menschenrechten im Ukrainekrieg und Nahostkonfikt jeweils ganz unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.
Als Folge der Polarisierung und des Schweigens leiden sowohl Juden*Jüdinnen als auch Muslim*innen auch in Deutschland darunter, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit bedroht und diskriminiert zu werden. Die Comicmacher*innen Hannah Brinkmann, Nathalie Frank, Michael Jordan, Julia Kleinbeck, Moritz Stetter, Birgit Weyhe und Barbara Yelin starteten Anfang 2024 ein Webcomicprojekt, in dem sie und andere Zeichner*innen mit Expert*innen und Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus gesprochen und diese Dialoge grafisch festgehalten haben. Unter www.wiegehtesdir-comics.de sowie https://www.instagram.com/comics_wiegehtesdir/ wurden die Onepager nach und nach veröffentlicht, nach Abschluss des Projekts gibt es die Comics nun auch in Buchform.
Beinahe jedes Gespräch beginnt mit der einleitenden Frage „Wie geht es dir?“, paradigmatisch auf die Prinzipien Empathie und Dialogizität verweisend. In unterschiedlichsten grafischen und narrativen Stilen setzen die Künstler*innen die Antworten der Befragten ins Bild; deren Vielfalt spiegelt sich in der Vielgestaltigkeit der comicalen Ausdrucksmöglichkeiten in Text und Bild. Im Ergebnis lassen sich ebenso unterschiedliche Sichtweisen auf den Nahostkonflikt nachvollziehen wie auch gelingende Formen einer jüdisch-muslimischen Austauschs sowie einer gemeinsamen Form der Trauer und Traumabewältigung im Angesicht von Krieg und Gewalt. Viele Comics thematisieren zudem das einigende Band, das zwischen den Protesten gegen Rechtspopulismus/-extremismus in Deutschland und Israel besteht. Insgesamt ein beeindruckendes Plädoyer für das Aushalten von Differenz und Widersprüchen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 30.03.2025 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Hannah Brinkmann, Nathalie Frank u. a. (Hg.): Wie geht es dir? 60 gezeichnete Gespräche nach dem 7. Oktober 2023 • Avant-Verlag, Berlin 2025 • Softcover • 136 Seiten • 35 Euro
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.