Mehrere Neuerscheinungen blicken zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, ergründen aber auch die Ursprünge von Wissenschaft und die Geheimnisse des Universums.
Mit Einstein und Kafka in Prag
Am 1. April 1911 ist Albert Einstein noch nicht jener größte Wissenschafter aller Zeiten, als den wir ihn kennen. Er ist 35 Jahre alt, Vater in Finanznöten und schleppt seine Familie von Zürich nach Prag. Die Frage der Gravitation verträgt sich nicht mit seiner Formel E=mc2. Er hofft, an der Prager Uni, wo er eine Stelle ergattert hat, auf einen grünen Zweig zu kommen. Bei einem der legendären Salonabende von Berta Fanta trifft der Patentprüfer Einstein auf den Versicherungsbeamten Franz Kafka, ebenfalls noch vor seinem Durchbruch.
Aus dieser Parallele zweier verschrobener Ikonen entspinnt der US-amerikanische Cartoonist Ken Krimstein eine rasante Geschichte, in der Einsteins Gedankenexperimente und Theorien ihren Auftritt bekommen – genauso wie seine Frau, die Mathematikerin Mileva Maric, der Geist Newtons und natürlich der rätselhafte Kafka, der auch mal als Grinsekatze aus „Alice im Wunderland“ vom Baum lacht. Mit einem grandios lockeren Strich und blassen Farben gezeichnet, gibt die Graphic Novel komische wie nachdenkliche Einblicke in diese prägenden Prager Jahre – und führt uns tief in faszinierende Rabbit-Holes aus der Wissenschaftsgeschichte.
Ken Krimstein: Einstein in Kafkaland • Kjona Verlag, München 2025 • 224 Seiten • Softcover • 26 Euro
Surfen auf der Zeitschleife
Was hat ein Regenponcho mit der Raumzeit zu tun? Und was das Geschrei von Gibbons mit dem Klang von Gravitationswellen? Der Graphic Novel „Loops“ gelingt es, die Physik und ihr Verständnis unserer Welt auf ganz neue Art und Weise erfahrbar zu machen. Wir begleiten den Künstler Luca Pozzi und den Star-Physiker Carlo Rovelli bei einer fiktiven Reise durch den südostasiatischen Dschungel, wo sie nicht nur ihre Komfortzone verlassen, sondern auch auf allerlei wunderliche Dinge stoßen. Bei ihren (real stattgefundenen) Spazier- und Gedankengängen leuchten sie die Ursprünge von Wissenschaft und ihre Entwicklung aus.
Sie tauchen ab bis zum Urknall, verhandeln das Problem der Unvereinbarkeit von allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik, ergründen das Wesen der Zeit, Spin-Schaum und die Hubble-Konstante. Dabei finden sie immer wieder Berührungspunkte zu ihrer tatsächlichen Umgebung. So halbwegs verständlich wird das Ganze aber erst durch die wunderschön visualisierten Bildmetaphern von Pozzis Partnerin, der Illustratorin Elisa Macellari. Wer sein Gehirn auf angenehme Weise zum Glühen bringen will, ist hier jedenfalls genau richtig.
Luca Pozzi, Elisa Macellari: Loops • Jaja Verlag, Berlin 2025 • 168 Seiten • Hardcover • 26 Euro
Immer wieder überleben
Es ist ein waghalsiger Plan: Mithilfe von gefälschten Papieren schaffen Leokadia Justmann, genannt Lodzia, und ihr Vater 1943 die Flucht aus dem Ghetto von Piotrków in Polen – es geht direkt in das „Auge des Sturms“, mit dem Zug Richtung Deutschland. Es ist nicht die erste und nicht die letzte Flucht, die der 1922 in Lódz geborenen Jüdin das Überleben ermöglicht.
Schon zuvor entkam sie dem Warschauer Ghetto, wo sie ihre Mutter verlor, die nach Treblinka deportiert wurde. In Piotrków trifft sie ihre alte Freundin Marysia wieder. Die enge Freundschaft der beiden ist titelgebend für den Comic „Lodzia & Marysia“, der auf den nach Kriegsende niedergeschriebenen Erinnerungen von Justmann basiert. Die beiden jungen Frauen landen in Tirol und stehen in Kontakt mit einer Widerstandsgruppe, die verraten wird. Sie werden verhaftet, aber schaffen im Jänner 1945 die Flucht aus dem Innsbrucker Polizeigefängnis. Nur mithilfe von Tiroler Helferinnen und Helfern überleben sie.
Die berührende Graphic Novel, die in Schwarz-Weiß mit Manga-Anklängen gehalten ist, erscheint begleitend zu einer Neuausgabe des Buchs der 2022 verstorbenen Justmann mit dem Titel „Brechen wir aus!“ und einem Forschungsprojekt der Universität Innsbruck. Noch bis 26. Oktober 2025 ist die Ausstellung „Leokadia Justman. Brechen wir aus! Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol“ als Teil der Schau „Vom Gauhaus zum Landhaus. Ein Tiroler NS-Bau und seine Geschichte“ im Landhaus Innsbruck zu sehen.
Alwin Hecher: Lodzia & Marysia • SIMB Verlag, Kufstein 2025 • 96 Seiten • Softcover • 19,90 Euro
Geballtes Grauen
Es ist ein verdichtetes Kompendium des Grauen, direkt aus dem innersten Machtzentrum der NS-Herrschaft, in dessen Mittelpunkt Adolf Hitler selbst steht. Die Comic-Dokumentation „Die letzten 100 Tage Hitlers“ beginnt am 15. Jänner 1945. Die Ardennenoffensive ist gescheitert, Hitler sitzt in einem Sonderzug nach Berlin. „Träfe eine Bombe diesen Zug, würde das drei Millionen Leben retten“, steht hier. Stattdessen verfolgt das Buch nun Tag für Tag, Seite für Seite, wie das bereits stark unter Druck stehende NS-Regime den Wahnsinn des Krieges auf die Spitze treibt. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs sind die zerstörerischsten.
Komplett schonungslos und manchmal zu direkt zeigt die Graphic Novel das unfassbare Leid der Todesmärsche, die NS-Massaker an Widerstandskämpfern und Häftlingen, die Selbstmorde verzweifelter Soldaten und die Hinrichtungen jeglicher „Verräter“, die Bombardements, die Deutschland in Schutt und Asche legen. Mittendrin Hitler, der einen Befehl nach dem anderen hinausschmettert und dabei bis zuletzt wahnhaft an der Idee eines Sieges festhält. Das Buch begleitet nicht nur den Führungsstab chronologisch bis zum Untergang des Dritten Reichs und bis zu Hitlers Selbstmord am 30. April, sondern hebt auch einzelne Schicksale und Ereignisse wie etwa das Massaker im Gefängnis von Stein hervor. Es ist ein erschütterndes Dokument, das wie eine Gewehrsalve daherkommt – definitiv nichts für schwache Nerven.
Jean-Pierre Pécau, Senad Mavric, Filip Andronik, Jean Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers • Knesebeck, München 2025 • 128 Seiten • Hardcover • 28,00 Euro
Die dunkle Geschichte des Bergwerks Altaussee
Passend zu 80 Jahre Kriegsende hier noch eine Empfehlung, die bereits 2024 erschienen ist: Seit Jahrtausenden wird im Sandling, einem der Hausberge von Altaussee, Salz geschürft. Seit dem 12. Jahrhundert ist die umfassende Förderung des weißen Goldes verbürgt – und hat seitdem das Leben der Menschen in der Region geprägt. Anlässlich des Kulturhauptstadtjahrs im Salzkammergut hat sich der renommierte Hamburger Comic-Künstler Simon Schwartz tief in die Geschichte des Salzbergs gegraben.
Seine Graphic Novel „Verborgen im Fels“, die bildgewaltig in tiefem Schwarz, Grau- und Goldtönen gehalten ist, erzählt vom harten Leben der Bergleute, die lange Zeit quasi Leibeigene der Habsburger waren. Mit Widerständigen wurde nicht lange herumgefackelt. Später wurde das technisch innovative Bergwerk, in dem bis heute eines der ergiebigsten Salzvorkommen beackert wird, gar von Alexander von Humboldt besucht. Das Ausseerland wurde zum Magnet für gutsituierte Sommerfrischler vom Kaiser abwärts, für jüdische Künstler und Intellektuelle.
1943 schließlich befahl Hitler, in den abgelegenen Stollen die von den Nationalsozialisten in ganz Europa zusammengeraubten Kunstwerke vor den Alliierten zu verstecken. Als diese 1945 immer näher heranrückten, sollte die rund 6.500 Kunstschätze umfassende Sammlung zerstört werden – was in einem nervenzerreißenden Finale durch den mutigen Einsatz von Salinenarbeitern verhindert werden konnte. Die großteils vergessenen Partisaninnen und Partisanen und den Widerstand gegen die Nazis im Salzkammergut würdigt übrigens dieser Comic von Thomas Fatzinek. Das Buch ist derzeit allerdings nur antiquarisch erhältlich.
Simon Schwartz: Verborgen im Fels • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 40 Seiten • Hardcover • 18,00 Euro
Dieser Beitrag erschien zuerst am 13.04.2025 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.
Abb. ganz oben aus „Loops“ (Jaja Verlag)