Matt Fractions und Elsa Charretiers Crime Story „November“ handelt von eiskalten Verbrechern, lässt die Gehirne der Leser*innen aber heißlaufen. Die vierteilige Serie ist nun in zwei Bänden abgeschlossen.
In „November“ geht es um drei Frauen, deren Wege sich eines Nachts ganz unvermittelt kreuzen. Als die drogenabhängige Dee den korrupten Polizisten Mann kennenlernt, erschließt sich ihr eine ganz neue und ungewohnt lukrative Einnahmequelle. Sie soll täglich von einem Dach aus per Funk einen Code durchgeben, hat aber keinen Schimmer, warum sie das eigentlich tut. Und wir auch nicht. Dafür soll sie 500 Dollar pro Arbeitstag erhalten, was sie natürlich nicht ablehnen kann. Als sie eines Tages von Polizisten angegriffen wird, setzt sie sich erfolglos mit einem Revolver zur Wehr. Dieser bleibt unbeachtet in einer Gasse liegen. Zunächst.
Emma-Rose findet diesen Revolver, als sie auf dem Boden nach den Einkäufen sucht, die durch die zerrissene Papiertüte gefallen sind. Sie informiert sofort die Polizei, aber leider kommen nicht die Freunde und Helfer, die sie erwartet, sondern uniformierte Gewalttäter, die sie im Kofferraum ihres Dienstwagens entführen und dabei nicht den Eindruck erwecken, dass sie das zum ersten Mal täten.
Zuvor hatte Emma-Rose mit der Polizeitelefonistin Kay Kowalski gesprochen und ihr von ihrem Fund berichtet. Kowalski ist auf der Erfolgsleiter nicht sehr weit gekommen, aber sie hat immer noch die Ambition, mehr als nur Telefondienst, nämlich „echte“ Polizeiarbeit zu leisten. Als in dieser Nacht mehrere Brände in der Stadt gemeldet werden, vermutet sie einen Zusammenhang, und plötzlich laufen die Fäden der drei Geschichten zusammen. Im zweiten Band erfahren wir schließlich, dass Kay Kowalski sich an der Unterschlagung von Beweismitteln beteiligt hatte, aber plötzlich ihr Gewissen entdeckte und sich gegen ihre Kollegen wandte. Am Ende kommt es zum großen Showdown zwischen den Polizisten, Kay, Dee und Emma-Rose.
Was hier so kohärent und plausibel klingt, kommt bei der Lektüre ganz anders daher. Das liegt vor allem an der diskontinuierlichen Erzählweise von Matt Fraction („Sex Criminals“). Die zwölf Kapitel folgen zeitlich nicht aufeinander, wie man es erwarten würde: Manche greifen weiter in die Vergangenheit zurück, andere verlaufen parallel, und erst am Ende erfahren die Leser*innen anhand mancher Details, dass diese Geschehnisse gleichzeitig stattfinden müssen. Explizite Zeitangaben würde die Orientierung erleichtern, aber so sind die Leser*innen so ratlos wie drei Frauen, die auch keinerlei Überblick über das Elend haben.
Jedes Kapitel fokussiert verschiedene Figuren, und so sind wir zeitlich wie räumlich bald einigermaßen durcheinander. Zudem führt Fraction Figuren völlig unvermittelt ein und löst erst nach und nach auf, um wen es sich dabei handelt. Weiter erschwert wird die Lektüre durch Panelsequenzen, die von Szenen unterbrochen werden, die wir (noch) nicht zuordnen können. Rätselhafte Bilder tauchen auf wie Flashbacks und lassen die Leser*innen mit einem großen Fragezeichen zurück. Wer mehr wissen möchte, muss Ermittlungen anstellen, also ein ums andere Mal durch den gesamten Band blättern, um die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Am Ende der beiden Bände bleiben aber immer noch einige Fragen offen, die sich auch nach mehrmaliger Lektüre nicht so recht erklären lassen: Was hat es genau mit diesem seltsamen Funker-Job auf sich, für den Dee von der Polizei gut entlohnt wird? Was verbirgt sich hinter den in der Tageszeitung versteckten Rätseln? Wer hat eigentlich die Explosionen in der ganzen Stadt verursacht – und warum? Die verschachtelte Erzählweise überschreitet oft die Grenzen des Zumutbaren, und auch wenn diese Frustration die Desorientierung der Figuren spiegeln mag, ist der Kunstgriff nicht ganz gelungen.
Die Zeichnungen von Charretier wiederum sind ungemein stimmungsvoll und profitieren von Matt Hollingsworths Kolorierung. Der Comic ist weitgehend düster, wie man es von einem Noir-Krimi erwarten würde, aber Hollingsworth setzt immer wieder farbliche Highlights. Durch viele Perspektivenwechsel und abwechslungsreiche Sequenzen erzählt Charretier anspruchsvoll und ansehnlich zugleich. Die erfolgreiche Verrätselungsstrategie geht auch keineswegs nur auf Matt Fractions Konto – die Charretiers Zeichnungen tragen zur Spannung ungemein bei. Vielleicht muss man die Story einfach noch einmal lesen, um alles zu verstehen. Es gibt Schlimmeres.
Matt Fraction (Autor), Elsa Charretier (Zeichnerin): November. Band 1 und 2 • Aus dem Englischen von Stephanie Grimm • Schreiber & Leser, Hamburg 2022/2023 • Je 152 Seiten • Hardcover • Je 29,99 Euro
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate.de, Alfonz und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.