Am 26. April 1986, vor genau dreißig Jahren, kam es im Atomreaktor der ukrainischen Stadt Tschernobyl zu einer unbeabsichtigten Explosion. Erst nach 36 Stunden begann die Sowjetunion damit, das unmittelbare Umfeld und die nahegelegene Stadt Prypjat zu evakuieren. Von der radioaktiven Strahlung unmittelbar betroffene Bewohner der Nachbarstädte lebten noch fünf Tage ohne jede Intervention unbeirrt weiter in ihren Häusern, gingen zur Arbeit und setzten sich dem lebensbedrohlichen, das Erbmaterial verändernden „Fallout“ aus. Auch nachdem der Weltöffentlichkeit die ernste Gefahr im nuklear verseuchten Areal bewusst wurde, bewegten sich Menschen in und um Tschernobyl. Mittellose Familien, die lieber auf ihrem Land sterben wollten, als in Armut und Aussichtslosigkeit zu leben. Oder die laut der Weltgesundheitsorganisation WHO hunderttausenden „Liquidatoren“ genannten Räumungskräfte. Eine Vielzahl dieser Menschen litt und starb an den Folgen der Verstrahlung, ganz zu schweigen von vielen schwerkranken und entstellten Kindern, die den Betroffenen in der nächsten Generation folgten.
Die vor kurzem bei Egmont erschienene Graphic Novel mit dem schlichten und dennoch mahnenden Titel „Tschernobyl“ erzählt episodisch die historische Tragödie noch einmal. Betrachtet durch die Augen dreier Generationen einer betroffenen Familie vermittelt sie die Katastrophe selbst und die Lebensumstände während sowie nach der Evakuierung. Und das ganz ohne schockierende, Sensationsgier befriedigende Bilder oder den kalkulierten Druck auf die Tränendrüse. Stattdessen entschieden sich Francisco Sànchez und Natacha Bustos für eine bedrückende, entschleunigte Erzählung, die auf sorgsam aufbereitete Fakten und schmerzhaft treffsicher vermittelte Verzweiflung setzt.
Die Qualität von Bustos groben, stimmungsvollen Tuschezeichnungen schwankt dabei recht stark. Landschaftsbilder und große, lockere Bildkompositionen sind mitunter wirklich eindrucksvoll, dicht besiedelte Stadtszenen wirken dafür manchmal in Ermangelung an Details arg überladen. Trotzdem trägt der Stil maßgeblich zur eigensinnigen und atmosphärischen Stimmung des einfühlsamen Katastrophenberichts bei. Nach der Lektüre des dichten Werkes, entlassen ein fiktiver, handgeschriebener Brief und eine zur Inspiration genutzte Fotostrecke den Leser in die bittere Gewissheit, dass Tschernobyl nicht bloß ein bedrohliches Science-Fiction-Szenario war. Sondern bittere Realität.
Francisco Sánchez, Natacha Bustos: Tschernobyl. Egmont Comic Collection, Berlin 2016. Broschiertes Softcover, 192 Seiten. € 19,99