Die Darmstädter Comiczeichnerin Paulina Stulin arbeitet schon seit Jahren im autobiografischen Erzählen, mit einem kreativen Ausstoß und einer Intensivität, die sprachlos macht. Ihren Durchbruch hatte Stulin 2020 mit der über 600 Seitenstarken Slice-of-Life-Erzählung „Bei mir zuhause“. Der Comic wurde für den „Max und Moritz“-Preis als „Bester deutschsprachiger Comic“ nominiert und stieß auf begeistertes Feedback seitens Kritik und Leser*innen. Eine dieser Leserinnen war die Münchner Filmemacherin und Schriftstellerin Doris Dörrie. Dörrie zeigte sich von „Bei mir zuhause“ so begeistert, dass sie Paulina Stulin anfragte, aus dem Drehbuch ihres nächsten Films „Freibad“ eine Graphic Novel zu entwickeln, die bereits im Vorfeld des Kinostarts (am 1. September 2022) erscheinen sollte. Stulin sagte nicht minder begeistert zu und machte sich vor und während der Dreharbeiten ans zeichnerische Werk.
„Freibad“ spielt während einer Hitzewelle in Deutschlands einzigem Frauenfreibad. Dort badet Frau oben ohne, im Bikini, Badeanzug oder Burkini. Jede folgt dabei anderen Regeln. Das führt immer wieder zu Reibereien, die die überforderte Bademeisterin nicht so ganz im Griff hat. Als dann auch noch eine Gruppe komplett verhüllter Frauen das Frauenbad begeistert für sich entdeckt, fliegen buchstäblich die Fetzen: Wem gehört das Bad und wer bestimmt die Regeln? Wem gehört der weibliche Körper? Und wann ist denn überhaupt eine Frau eine Frau? Die Bademeisterin kündigt entnervt. Als dann aber als Nachfolge ausgerechnet ein Mann als Bademeister angestellt wird, eskaliert die Situation. Wir veröffentlichen das folgende Presse-Interview mit Paulian Stulin mit freundlicher Genehmigung des Jaja Verlags.
Liebe Paulina, wie schön, dass du dir Zeit nimmst für unser Gespräch! Das letzte Mal, als wir uns unterhalten haben (hier das Interview), ist gerade deine autobiografische Erzählung „Bei mir zuhause“ erschienen. Ein 600-seitiger Comicroman, in dem du ungeschönt, ehrlich und intensiv über dich selbst und deinen Alltag erzählst. Der Band wurde euphorisch von Kritik und Leser*innen aufgenommen und war jüngst sogar für den „Max und Moritz“-Preis nominiert. Wie hast du das Feedback zu deiner Arbeit wahrgenommen? Welches Feedback und welche Reaktionen auf deine Comics sind dir persönlich am wichtigsten?
Die Rezeption von „Bei mir zuhause“ hätte ich mir nicht schöner ausmalen können. Natürlich war es sehr schmeichelhaft, dass das Buch in vielen Medien besprochen wurde, doch am tiefsten berührt hat mich, wie viele Menschen mir persönlich davon berichteten, dass sie den Schinken in einem Rutsch verschlungen und sich in meinen intimen Schilderungen wiedergefunden haben. Überhaupt verblüffte es mich, dass das Buch zum allergrößten Teil genau so gelesen wurde, wie ich es gemeint habe. Ich hatte schon damit gerechnet, dass meine Bubble versteht, worum es mir geht, aber dass meine Flaschenpost tatsächlich derart unverwässert bei den unterschiedlichsten Leuten ankommt, hätte ich wirklich nie zu träumen gewagt. Hat mir auf sehr eindringliche Weise vor Augen geführt, wie ähnlich wir alle einander letztlich sind.
Ein Feedback zu „Bei mir zuhause“ kam aus einer prominenten Ecke: Die deutsche Filmemacherin und Autorin Doris Dörrie war von deinem Comic so begeistert, dass sie dich für eine Adaption ihres neuesten Filmdrehbuchs ansprach. Kannst du uns mehr über diese Begegnung erzählen? Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen dir und Doris Dörrie? Und was war es, was dich an Doris Dörries „Freibad“ angesprochen hat?
Meine (bis vor einem Jahr noch einseitige) Beziehung mit Doris Dörrie begann, als ich mit 17 in der Bibliothek das Hörbuch zu ihrem Roman „Was machen wir jetzt?“ entdeckte. Ich war so beeindruckt davon, wie sie es hinbekam, Themen wie Abtreibung, Sinnsuche und Tod unterhaltsam zu behandeln und dabei gleichzeitig profunde Einsichten über diese ernsten Angelegenheiten zu vermitteln. Von da an war ich von ihren Büchern angefixt, las und hörte sie rauf und runter und drängte sie all meinen Freunden auf.
19 Jahre später: Ein paar Monate, nachdem ich „Bei mir zuhause“ veröffentlicht hatte, ging ich eines Tages nichtsahnend auf Instagram und fiel fast vom Stuhl vor Überraschung, denn da stand: „doris_doerrie folgt dir jetzt“! Ich lief den Rest des Tages mit einem breiten Grinsen, aber auch sehr verwirrt durch die Gegend. Ich konnte es einfach nicht fassen, nun auf dem Schirm dieses meines großen literarischen Vorbildes zu sein, das meine Art zu erzählen geprägt hat wie wenig andere Autor:innen. Darauf folgte nach ein paar Wochen der Gipfel der Unwirklichkeit: Doris fragte mich, ob ich Lust hätte, das Experiment zu wagen, parallel zur Entstehung ihres neuen Kinofilms eine Graphic Novel auf der Basis desselben Drehbuchs zu zeichnen. Sie erzählte, schon lange ein Fan des Mediums zu sein, unter anderem, weil man es in seinem eigenen Tempo durchlesen könne und dies eine andere Form des Involviertseins erzeuge als der Film, den man ja vergleichsweise passiv genießt.
Ich war mir anfangs unsicher, ob ich es machen soll, da ich in den letzten Jahren herausgefunden habe, dass das autobiografische Erzählen genau mein Ding ist und ich bisher nur wenig Erfahrung damit hatte, den Stoff von anderen grafisch umzusetzen. Aber schließlich war ich zu neugierig auf diese Erfahrung und sagte zu.
Erzähl uns doch ein bisschen über die Entstehung des Buchs. Du wurdest bestimmt in der Drehbuchphase des Projekts hinzugezogen, oder? Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit? Durftest du das Drehbuch und den Plot um eigene Ideen erweitern? Welchen Anteil hatten Doris Dörrie und ihre Drehbuchkolleg*innen an der Entstehung des Comics?
Ich bekam Anfang 2021 das Drehbuch, das in den folgenden Monaten noch einige Wandlungen erfahren sollte, und den Auftrag, die Geschichte darin auf meine Weise zu erzählen. Mir wurde angeboten, den Plot weiterzuspinnen, sobald ich die Drehbuch-Story als Comic umgesetzt hätte, doch angesichts der sehr kurzen Zeit, die mir für die Fertigstellung blieb, stand es außer Frage, da zusätzlich noch eigene Ideen einzubauen. Ich schickte Doris während der zehn Monate, die ich an dem Buch zeichnete, regelmäßig Zwischenstände, doch abgesehen von ein paar kleinen Änderungen hier und da überließ sie mir völlige künstlerische Freiheit.
Es war mir wichtig, keine 1:1-Version des Films in Comicform zu machen, das hätte ich als künstlerisch reizlos empfunden. Es wäre aber auch gar nicht möglich gewesen, da ich erst im Dezember den Rohschnitt zu sehen bekam und bis zu diesem Punkt eine eigene Version erarbeiten musste. Ich glich das Buch im Folgenden dem Film an manchen Stellen an, fügte z. B. Szenen hinzu, von denen ich bis zum ersten Sehen noch nichts wusste, weil Doris sie erst eine Nacht vor dem Dreh geschrieben hatte, aber im Großen und Ganzen blieb ich bei meiner Interpretation. So kann man sich beides mit Gewinn zu Gemüte führen: Manche Sachen haben es in den Comic geschafft, die im Film dem Schnitt zum Opfer gefallen sind und andersrum.
Stand das Casting schon, als du mit der Arbeit an deinem Comic begonnen hast? Hast du dich in der Entwicklung der Figuren an den Schauspieler*innen orientiert oder hattest du freie Hand in der Gestaltung des Ensembles? Was war dir wichtig in der grafischen Darstellung der Figuren?
Das Casting stand schon, als ich in die Arbeit einbezogen wurde und ich muss sagen, dass ich mir kaum eine passendere Besetzung vorstellen kann. Es wirkte für mich, als ich sie zum ersten Mal sah, wirklich so, als wären die echten Menschen Vorlagen für die Filmfiguren gewesen.
Im August 2021 besuchte ich für eine Woche die Dreharbeiten, wo ich die meiste Zeit damit verbrachte, mir das Freibad zeichnerisch einzuverleiben und die Schauspieler*innen zu portraitieren. Mithilfe dieser Vorlagen baute ich den Ort in den folgenden Monaten am Grafiktablett nach und kreierte Comicfiguren, die den Darsteller*innen nachempfunden waren. Wichtig war mir, sie der Lesbarkeit zuliebe auf den ersten Blick gut unterscheidbar zu gestalten, aber auch, ihren mannigfaltigen Formen des Schönseins gerecht zu werden.
„Freibad“ liest sich wie ein Kammerspiel – dem titelgebendem Schwimmbad als Handlungsort – und wird hauptsächlich von den Dialogen getragen. War es eine Herausforderung für dich, einen Comic auf 300 Seiten mit nur einem Setting zu erzählen? Wie bist du mit dieser „Einschränkung” dramaturgisch und bildkompositorisch umgegangen?
Der Umstand, dass die Geschichte fast nur an einem Ort spielt, lud mich dazu ein, seine Komponenten, das Wasser, das Grün und den Himmel malerisch voll auszukosten. Er gab mir aber auch Gelegenheit, mich besonders intensiv meiner Spezialität zu widmen, für die ich schon bei meinem letzten Comic viel positive Resonanz erhielt: die Gesten und Gesichtsausdrücke der Figuren.
Das Frauenbad in der Geschichte ist eine Parabel auf unsere Gesellschaft, ein Ort, den die Charaktere beanspruchen und verteidigen gegen andere, fremde Neuankömmlinge, ein Ort, auf den jede der Frauen ihre eigenen individuellen Sehnsüchte, Träume und Fantasien projiziert. Wie hast du das Setting wahrgenommen? Wofür steht das Freibad im Film und im Comic für dich?
Stimmt, das Freibad in der Geschichte ist einerseits ein Gleichnis für Deutschland oder, wenn man will, die „westliche Welt”, aber es ist andererseits auch einfach ein Freibad: ein Ort, an dem man sich vergnügt, Eis schleckt, Pommes isst, Sport macht, sich mit Freunden trifft und sich verliebt. Und, im Zuge des Klimawandels immer mehr: eine Einrichtung, die es Menschen, die sich vor den steigenden Temperaturen nicht in klimatisierten High-Tech-Villen verschanzen können, ermöglicht, sich abzukühlen.
Im Zentrum des Plots stehen die Themen Kopftuch, Umgang mit dem weiblichen Körper in unserer Gesellschaft, Selbstbestimmung und Solidarität unter Frauen. Vor allem die Debatte um das Kopftuch ist schon seit Jahrzehnten ein Streitpunkt in feministischen Kreisen. Was hat dich daran angesprochen, wie „Freibad“ dieses Thema umsetzt?
Doris hat mir bei unserem ersten Gespräch über dieses Projekt sinngemäß gesagt, dass solche ernsten Angelegenheiten nur in einer Komödie gebührend behandelt werden können. Das scheint mir in diesem Projekt sehr gelungen. Ich finde, der Humor in „Freibad” ist ein Musterbeispiel dafür, dass emanzipatorische Inhalte nicht bieder daherkommen müssen. Dass die komödiantische Auseinandersetzung mit heiklen Themen weder pseudorebellisch eine vermeintliche „Political-Correctness-Diktatur“ anprangern muss, um an Tabus zu rütteln, noch auf dröge Weise moralapostelmäßig daherzukommen braucht, um eindeutig Stellung gegen Ungleichheit zu beziehen.
Hast du ein Lieblingsfreibad in Darmstadt?
Da fällt mir auf Anhieb das Nordbad ein, das vor 15 Jahren noch so unbewacht war, dass man nachts problemlos ein- und ausspazieren, schwimmen gehen und laut Musik hören konnte, ohne jemanden zu stören. Wilde-Jugend-Feeling deluxe!