Im fiktiven Hochhaus von Künstlerin Katharina Greve erhält der geneigte Voyeur Einblick in insgesamt 102 parallel stattfindende Ereignisse auf genau so vielen Etagen. Die oft satirisch überzeichneten Bewohner des Betonriesen haben Beziehungen zueinander, Meinungen über ihre Nachbarn. Sie haben Streit, geheime Affären oder gehen sich einfach nur gegenseitig zur Hand.
Fast zwei Jahre lang wuchs der Online-Fortsetzungsstrip Woche für Woche um ein weiteres Stockwerk an, bis am 5. September im wahrsten Sinne ein Deckel auf den Bau kam. Das im letzten Jahr auf dem Comicsalon Erlangen mit dem „Max & Moritz-Preis“ für den besten deutschsprachigen Comic-Strip ausgezeichnete Projekt zeigte noch eindrucksvoller als Daniel Lieskes prachtvolle und atmosphärische „Wormworld-Saga“, wie genial das Medium Comic von einer optional endlosen, digitalen Leinwand profitieren kann. Egal ob mit einem Computer oder noch eindrucksvoller, da haptisch sinnvoller, mit einem Tablet: „Das Hochhaus“ lässt den Leser mit dem namensgebenden Riesengebäude interagieren, lässt ihn mit seinen Fingern den fiktiven Lift bedienen und schafft die herrlich greifbare Illusion, sich als stiller Beobachter tatsächlich entlang seiner Fassade zu bewegen.
Da stellt sich nun die berechtigte Frage, ob eine physikalische Umsetzung, wie kürzlich bei Avant erschienen, überhaupt Sinn macht. Ja, durch geschickte Designüberlegungen hat diese Veröffentlichung nämlich ihren ganz eigenen Charme und auch ihren eigenen haptischen Zugang. Das zugegeben nicht unbedingt billige Büchlein ist in einem schicken, länglichen 1:2 Format, das nach der hochformatigen Einleitung auf quadratischen, quer präsentierten Doppelseiten je vier Stockwerke des Hochhauses zeigt. Ganz ähnlich wie bei einem Kalender blättern wir uns also an Frau Greves Wolkenkratzer empor und erhalten so eine überraschend gut funktionierende Alternative zum stufenlosen, digitalem Scrollen.
Ein vielleicht nicht wahnsinnig umfangreiches, aber dafür extrem innovatives und immersives Lesevergnügen, auf das vor allem Comic-Leser mal einen Blick werfen sollten, die klassische Erzählweise im Comic einfach leid sind. Aufgrund des charmant festgehaltenen Zeitgeists und der dekorativen Präsentation eignet sich das gedruckte Hochhaus aber auch hervorragend als originelles Geschenk für Freunde und Verwandte, die vielleicht bislang keinen Bezug zu Comics hatten.
Ein Interview mit Katharina Greve findet sich hier.
Katharina Greve: Das Hochhaus. Avant-Verlag, Berlin 2017. 52 Seiten, Hardcover, 20,00 Euro.