Wann ist ein Mensch ein Wolf?

Martine Laverdure ist Kassiererin im Supermarkt. Eine verbotene Liaison mit einem Kollegen wird ihr zum Verhängnis: Sie soll entlassen werden. Beim Entlassungsgespräch eskaliert die Situation. Martine stürzt und zieht sich dabei tödliche Verletzungen zu. Mindestens indirekt verantwortlich dafür ist Jean, der für die Sicherheitsabteilung des Marktes arbeitet. Martines erwachsene Söhne sinnen auf Rache. Sie sind Tier-Mensch-Hybride mit Wolfseigenschaften. Und haben es faustdick hinter den Ohren, was der brutale Überfall auf einen Geldtransport beweist. Sie stürmen die Wohnung von Jean und seiner herrischen Frau Marianne. Während Jean entkommen kann, wird Marianne vom Wolfsrudel entführt. Bald knüpft sie zarte Bande mit dessen Anführer. Und Jean verguckt sich in Blanche, die interne Ermittlerin der Supermarkt-Kette. Doch der Rachedurst der Wolfsbrüder ist noch lange nicht gestillt.

Sébastien Goethals: „Die Zeit der Wilden“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 272 Seiten. 39,80 Euro

Es sind seltsame Charaktere, die sich hier tummeln. Und noch seltsamer sind ihre Verhaltensmuster, die fast allesamt von Gefühlskälte und Opportunismus gekennzeichnet sind. Irgendwann in wohl nicht ganz ferner Zukunft ist es möglich, wenn auch nicht (für jeden) legal, tierische mit menschlichen Genen zu mischen und den manipulierten Menschen damit Eigenschaften (und/oder Aussehen) des jeweiligen Tieres zu verleihen. Und damit auch dessen Kräfte. So sind die Wölfe, die pragmatisch-neutral Weiß, Grau, Braun und Schwarz heißen, außerordentlich stark und benehmen sich wie gnadenlose Raubtiere, während Marianne, die Gene der Grünen Mamba besitzt, Schlangengift produzieren kann. Aber diese seltsamen Kreuzungen und Eigenschaften sind nicht Kern des Bandes. Wir haben hier weder eine Fantasy-/SF-Story à la Dr. Moreau noch eine neue Superhelden-Variante vor uns. Es dominieren Gewalt, Kälte und irrationales Handeln.

So vermisst Jean seine Frau kaum, und Marianne beschäftigt sich lieber mit ihrem Marketing-Posten als mit dem „Verlust“ ihres Mannes. Stockholm-Syndrom? Jean zeigt keine Schuldgefühle ob seiner Tat. Er schaut eher aus wie ein Bub, nicht wie ein gestandener Mann und agiert auch nicht sonderlich mutig. Und sein Vater ist unter seinem Gamertag ein berühmter Videospiel-Zocker. Die Wölfe, deren Geldtransport-Coup von der Polizei kurioserweise nicht weiter verfolgt wird, sinnen auf Rache, nicht nur an Jean. Martine, die Mutter, gab ihre Söhne für zwei Jahre weg, um arbeiten zu können. Blanche scheut sich – auch aufgrund tierischer Gene – vor einer Beziehung und erläutert lieber sozialpsychologische Theorien. Nur die Beziehung zwischen Martine und dem Kollegen (der Jacques Chirac heißt!), die so brutal beendet wird, scheint ehrlich und gefühlsecht. Und im Hintergrund agieren die übermächtigen Deutschen Supermarkt-Bosse, Zwillinge, denen Gewinnmaximierung über alles geht und die in den Albrecht-Brüdern (Aldi) reale Vorbilder haben.

Autor und Zeichner des Bandes ist Sébastien Goethals, der durch seine Graphic Novels „Das Spiel der Brüder Werner“ und „Die Reise des Marcel Grob“ bekannt wurde, beide erschienen ebenfalls bei Splitter. Mit „Die Zeit der Wilden“ adaptiert er einen Roman des belgischen Schriftstellers Thomas Gunzig, der nicht auf Deutsch vorliegt (übersetzt „Survival-Handbuch für Unfähige“). Sein Zeichenstil ist angenehm realistisch und detailliert. Vor allem bei den Actionszenen, die meist mit zerstörerischer Gewalt daherkommen, sehr filmisch mit schnellen Schnitten inszeniert sind, weiß er zu punkten. Dazwischen bremsen immer wieder wortreich dargebrachte, theoretische Diskurse und Monologe den Handlungsfluss. Ein in Teilen unbequemer und damit auch ungewöhnlicher Band voller kurioser Allianzen und unsympathischer Protagonisten in einer am Ende sprichwörtlich kalten Welt.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Die Zeit der Wilden“ (Splitter Verlag)