Lost in Temptation – „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“

Tokyo. Eine Frau und ein älterer Herr. Beide begegnen sich wie zufällig in einem Lokal. Sie heißt Tsukiko Omachi und ist 37 Jahre jung. Das weiß er noch. Denn er war einst ihr Lehrer. Sie dagegen kann sich an seinen Namen nicht mehr erinnern, weshalb sie ihn fortan respektvoll Sensei nennt. Zusammen trinken sie Sake und treffen sich schließlich regelmäßig. Man isst auch gemeinsam und ab und zu besucht Tsukiko den Sensei auch zuhause. Beide sind alleinstehend – die Frau des Sensei hat ihn vor Jahren verlassen und auch Tsukiko hat keinen Partner, geschweige denn eine feste Beziehung. Trotz des Altersunterschieds von 30 Jahren kommen sich beide näher, werden zu Vertrauten, gleichwohl stets eine kleine Distanz zwischen sich wahrend und beim förmlichen „Sie“ bleibend. Doch Tsukiko merkt, dass sie in den viel älteren Mann verliebt ist, was sie zuerst sich selbst und schließlich auch dem Sensei eingesteht. Setzt sie damit alles aufs Spiel oder erwidert er ihre Gefühle?

Jiro Taniguchi (Text und Zeichnungen), Hiromi Kawakami (Romanvorlage): „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“.
Carlsen, Hamburg 2018. 440 Seiten. 28 Euro

Jiro Taniguchi, der 2017 verstarb, adaptiert mit „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ einen Roman der berühmten japanischen Autorin Hiromi Kawakami. Das Buch, das wörtlich übersetzt „Die Mappe des Lehrers“ (der Sensei hat seine Aktentasche überall dabei) heißt, passt perfekt zu Taniguchis charakteristischem ruhigen und lyrischen Erzählstil, zeigt es doch eine bedachte wie ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem Lehrer und seiner ehemaligen Schülerin, Jahrzehnte, nachdem sich ihre schulischen Wege trennten. Dabei nimmt sich die Geschichte viel Zeit, vor allem kulinarische Genüsse jeglicher Art werden bei den Gesprächen des Paares, die oft in deren Stammkneipe stattfinden, ausführlich und detailliert beschrieben. Samt massivem Genuss von Sake – immer wieder zechen die beiden gerne. Doch allein damit lassen sich kaum über 400 Seiten füllen. Deshalb begleiten wir Tsukiko und den Sensei u. a. in die Natur zur Pilzsuche (auch hier wird ausführlich gegessen), zu einem Kirschenblütenfest, wo Tsukiko beinahe eine Affäre mit einem ehemaligen Mitschüler beginnt. Oder bei einem Ausflug auf eine Insel, der so ganz anders verläuft, als sich Tsukiko das anfangs vorgestellt hatte.

In 19 Kapiteln, die hier Begegnungen genannt werden, denn zwischen ebendiesen liegen oft Tage, Wochen oder gar Monate, in denen sich die beiden nicht treffen, lernt Tsukiko als Ich-Erzählerin ihren Sensei kennen. Oder sie versucht es zumindest. Denn die Gefühlswelt des alten Herrn bleibt ein Buch mit sieben Siegeln. Mit einer stoischen Ruhe gesegnet, die auch mimisch zum Ausdruck kommt, reagiert er oft nicht so, wie Tsukiko das gerne hätte. Er bewahrt die Contenance, auch in peinlichen Momenten, bleibt stets würdevoll oder lenkt das Gespräch unvermittelt auf ein anderes Thema, wenn es für Tsukiko einmal unangenehm zu werden droht. Seine Gedanken behält er bei sich und damit verborgen vor dem Leser und vor Tsukiko. Die reflektiert immer wieder über ihr Leben. Sie ist mit sich nicht im Reinen und versucht ihre Gefühle für den Sensei zu blockieren. Und als sie ihm dann sichtlich betrunken doch ihre Liebe gesteht, vergeht die Episode wie in einem Traum. Bis der Sensei schließlich Tsukiko ganz offiziell zu einem „Date“ (so nennt er es selbst) einlädt.

Der Geschichte erscheint hier erstmals in einem fetten Hardcover-Band, 2011 veröffentlichte der Carlsen Verlag sie noch in zwei Softcover-Ausgaben. Der Deutsche Titel ist eine Zeile aus einem Lied, das Tsukiko singt und dessen Schluss ihr nicht mehr einfällt. Der wird dann bezeichnenderweise vom Sensei ergänzt. Den dicken Band durchzieht auch eine melancholische Stimmung, für die in erster Linie Tsukiko verantwortlich ist. Und beide Hauptakteure vereint eine gewisse Einsamkeit, ist doch keiner bereit, seinen gewohnten Käfig ganz verlassen zu wollen, obwohl die Tür weit offen steht. Damit erinnert das Buch ein wenig an Bill Murray und Scarlett Johansson in „Lost in Translation“, auch zwei Seelenverwandte die in Tokyo zueinander finden wollen, es aber nicht können. Oder doch? Wie die Geschichte der beiden ausgeht, wollen wir natürlich nicht verraten. Kriegen sich Tsukiko und der Sensei noch oder scheitern sie? So oder so – am Ende verlassen wir das Paar angenehm berührt und gleichsam entschleunigt (trotz des etwas skurrilen letzten Kapitels). Das Leben ist eben doch ein langer, ruhiger Fluss.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.