Chengdu, Millionen-Metropole und Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan/Szechuan (dort, wo der Gute Mensch lebt). Hier wohnt die Schülerin Lin Xiaolu mit ihrer Mutter. Xiaolu geht in die elfte Klasse der Mittelschule und findet nur schwer Anschluss an ihre Mitschüler. Auch ihre schulischen Leistungen sind eher mittelmäßig. Stattdessen durchlebt sie Tagträume und taucht in eine Phantasiewelt ein, die mit Figuren aus ihren Comics, die sie so liebt, bevölkert ist. Erst als sie dem Jungen Han Che begegnet, der eine Klasse über ihr und wie Xiaolu künstlerisch begabt ist, taut sie etwas auf. Zwar bleibt Han Che ein unerreichbarer Schwarm – eine gewollte persönliche Begegnung oder gar ein Gespräch scheinen in weiter Ferne – aber indirekt fasst sie durch ihn Mut und lernt so diverse Menschen kennen und öffnet sich damit letztendlich auch ihrer Umwelt, Horizont-Erweiterung inbegriffen.

Jidi (Autorin), Ageng (Zeichnerin): „Der freie Vogel fliegt Band 1-3“.
Chinabooks, Konstanz 2018. 288/300/284 Seiten. Je 24,80 Euro
In ihrer auf sechs Bände angelegten Graphic-Novel-Reihe lassen sich die beiden chinesischen Autorinnen Jidi (die auch die Romanvorlage schrieb) und Ageng viel Zeit, ihre Coming-of-Age-Story en détail zu erzählen, die teilweise autobiographischen Hintergrund hat. Zuerst lernen wir die Hauptfigur Xiaolu und ihre Welt kennen, die sie um sich herum schützend aufgebaut hat, seit man sie aufgrund der Scheidung ihrer Eltern in frühen Jahren hänselte. Als mittelmäßige wie naive Schülerin, die sich in einem Kokon umgeben mit Phantasiefiguren abschottet, stets grimmig dreinschaut und keinerlei Freundschaften aufbaut oder gar pflegt. Erst als sie Han Che trifft (in jeweils sehr einseitigen Begegnungen) und von dessen Zeichnungen und Interessen begeistert ist (er studiert u. a. den Architekten Antoni Gaudi, der in Barcelona bspw. die Kirche Sagrada Familia entwarf, die nach weit über 100 Jahren noch immer nicht fertiggestellt ist), weichen ihre Tagträume einer anderen, nämlich der echten Welt, mit all ihren Vorzügen und Nachteilen.
Erst lernt sie den leicht cholerischen Ladenbesitzer und Bonvivant Hu Xu kennen und hilft dort aus, dann schließt sie Freundschaft mit ihren ach so erwachsen sich gebenden Mitschülerinnen. Dabei kredenzen uns die Autorinnen in ausführlichen Rückblicken genaue Informationen über die Figuren und verpassen ihnen so eine Vita. Die Episode um den Tod der Cousine ist sehr persönlich gestaltet und offenbart einfühlsam das Innenleben der Protagonisten. Dass gute Noten nicht alles sind, ist somit eine weitere bittere Erkenntnis für Xiaolu beim erwachsen werden. Anders als bei japanischen Mangas kommen die Bände in europäischer Leserichtung daher. Und durchgehend in Farbe (in angenehmen Pastelltönen). Die Bilder von Ageng (oder A Geng) zeigen eine Mischung aus Realismus und Überzeichnungen, eben wenn große Gefühle oder Wutausbrüche im Spiel sind. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit macht es Laune, beim Flügge werden Xiaolus dabei zu sein, was neben der Thematik auch der zeichnerischen Finesse zu verdanken ist. Wie schon bei den „Helden der Östlichen Zhou-Zeit“ kommen die Bände zweisprachig daher. In der ersten Hälfte die deutsche Fassung, in der zweiten die chinesische Originalversion – für die Sinologen unter uns. Band 4 erscheint in Kürze.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.