„Die Katastrophe kommt, wenn die Institution Journalismus fällt“

Mehr als 20 Jahre lang arbeitete Jason Lutes an seinem großen Comic-Roman über das Berlin der niedergehenden Weimarer Republik. Kunstvoll entfaltet sich ein beeindruckendes Zeitpanorama, in dem der amerikanische Zeichner die Entwicklung von 1928 bis hin zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nachverfolgt.

Andrea Heinze: Heute gilt das Berlin der 20er-Jahre als hip. War das damals, vor 20 Jahren, als Sie mit dem Comic gestartet sind, auch so?
Jason Lutes: Na ja, ich hab damals in Seattle gelebt, an der amerikanischen Westküste, was ziemlich weit weg ist von Deutschland und Europa. Es war also überhaupt nicht hip. Keiner hat da irgendetwas über Berlin gewusst – ich auch nicht. Das war für mich also eine komplett fremde Welt.

Comicautor Jason Lutes (Carlsen Verlag)

Was hat Sie dann daran interessiert?
Ich hatte gerade meine erste Graphic Novel fertiggestellt. Damit habe ich mir im Grunde selbst beigebracht, wie man Comics gestaltet. Und ich habe damals geglaubt: Jetzt kann ich jede Art von Geschichte erzählen! Ich habe dann zufällig eine Werbung für ein Fotobuch über das Berlin der 20er-Jahre gesehen und da stand, dass das eine unglaublich interessante Stadt gewesen sein muss. Da dachte ich: Okay, dann mache ich darüber mein nächstes Buch. Es war also eine sehr zufällige Entscheidung. Und alles, was ich damals wusste, war, dass es die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen war und dass Deutschland gerade die Weltwirtschaftskrise hinter sich gelassen hat. Es muss eine sehr schwere Zeit gewesen sein. Und zugleich war Berlin führend in kultureller Hinsicht, und das fand ich faszinierend. Erst später habe ich gemerkt, dass ich auch verstehen wollte, wie es zum Zweiten Weltkrieg kam und zum Holocaust. Und ich wollte herausfinden, wie Durchschnittsbürger damals in Berlin lebten.

Sie haben mit dem Comic vor mehr als 20 Jahren angefangen. Warum hat das so lange gedauert, ihn fertigzustellen?
Zunächst mal wurde die Geschichte Kapitel für Kapitel als Comicheft veröffentlicht. Allerdings hat sich das nicht besonders gut verkauft – das heißt, ich habe nicht viel damit verdient und musste mir noch einen anderen Job suchen. Dann habe ich geheiratet, wir bekamen Kinder und ich konnte immer nur nachts arbeiten, wenn die Kinder schliefen oder an den zwei Tagen, die ich in der Woche im Atelier habe. Aber ich hatte mir vorgenommen, 600 Seiten über das Berlin der 20er-Jahre zu schreiben und ich bin sehr glücklich, dass ich das geschafft habe.

Reale und fiktive Charaktere

Den historischen Stoff mussten Sie erst mal recherchieren. Wie haben Sie das gemacht?
Es ist mir wirklich peinlich, aber ich kann Deutsch weder sprechen noch lesen. Also mussten meine Quellen alle auf Englisch sein. Und es waren die 90er-Jahre – damals konnte man das Internet für so etwas noch nicht gebrauchen. Also bin ich in jeden Buchladen und jede Bibliothek in meiner Nähe gegangen und habe eine ganze Sammlung von Büchern über europäische Geschichte, Kunstgeschichte und natürlich Berliner Geschichte zusammengetragen. Ich habe zwei Jahre lang recherchiert, bevor ich auch nur einen einzigen Strich zeichnete. Und das Ziel war, sich in die Zeit hineinversetzen zu können, sich vorstellen zu können, was es bedeutet, im Berlin der 20er-Jahre zu sein.

Jason Lutes (Autor und Zeichner): „Berlin. Gesamtausgabe“.
Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 608 Seiten. 46 Euro

Stimmt es, dass die Figuren im Buch nach realen Personen entstanden sind?
Es gibt ein paar „reale“ Figuren – Carl von Ossietzky zum Beispiel, der Herausgeber der Zeitschrift „Weltbühne“ – oder Joachim Ringelnatz, der Dichter – und ein paar berühmte Nationalsozialisten. Andere Charaktere habe ich nach Fotografien oder Kunstwerken aus dieser Zeit entworfen. Ein Foto von Siegfried Jacobsohn, dem Gründer der „Weltbühne“, ist die Vorlage für den Journalisten Kurt. Kurts Persönlichkeit und seine Interessen habe ich frei erfunden.

Komplexes Zusammenspiel der Großstadt

Es gibt sehr viele Handlungsstränge: Da ist Marta, die junge Frau, die nach Berlin kommt, um emanzipiert und frei zu sein. Die Arbeitertochter, die unter furchtbaren sozialen Bedingungen leidet und Kommunistin wird. Ihr Vater, der sich aus den gleichen Gründen den Nazis anschließt. Oder Kurt, der Journalist der „Weltbühne“, der immer wieder hart recherchiert, um die Wahrheit über deutsche Rüstungspläne, die im Versailler Vertrag ja eigentlich verboten waren, ans Licht zu bringen und daran verzweifelt, dass die Menschen das nicht hören wollen. Hätte nicht eins dieser Themen gereicht, um einen dicken Comic zu füllen?
Vielleicht. Wahrscheinlich kann man mit allen möglichen dieser Themen ein ganzes Buch füllen. Aber ich wollte eine große Vielfalt von Menschen und Erfahrungen. Weil mich die gesamte Struktur der Stadt und die unterschiedlichen Leben, die da zusammenkommen, interessiert hat. Ich habe darüber nicht bewusst nachgedacht, sondern bin meiner Intuition gefolgt. Das heißt, ich habe die beiden Charaktere Kurt und Marta erfunden und sie mit dem Zug in die Stadt fahren lassen. Mein Ziel war es, denen zu folgen und zu sehen, was die machen werden, wie sich ihr Leben entwickelt. Sie treffen sich mit Menschen und interagieren mit denen. Damit konnte ich auch immer wieder die Perspektive wechseln und mich auf unterschiedliche Orte und Menschen fokussieren.

Ich wollte wissen, wie all diese Geschichten zusammenspielen und etwas Größeres ergeben. Es war dieses komplexe Zusammenspiel der Großstadt, das ich erforschen wollte und natürlich, wie sich dies auf größere Bewegungen der Geschichte auswirkt und wie die Nazis an die Macht kamen. Und zu verstehen, was das für ganz normale Menschen bedeutet hat. Zum Beispiel, wenn man nicht mit der gerade vorherrschenden politischen Ideologie übereinstimmt. Was bedeutete es, wenn jemand versucht zu überleben, während die Demokratie zusammenbricht und man machtlos ist.

Seite aus „Berlin“ (Jason Lutes / Carlsen Verlag)

„Ohne Journalismus würde die Welt zusammenbrechen“

Warum weckt das Berlin der 20er Jahre gerade jetzt wieder unser Interesse?
Ich glaube, dass vieles, was damals geschehen ist, auch heute wieder passiert. Ich glaube, es sind ähnliche Kräfte am Werk. Damals gab es dieses Gefühl, dass die Welt menschlicher wird und voller Möglichkeiten steckt. Und dem gegenüber stehen die rückwärtsgewandten Elemente, die versuchen, die Gesellschaft in eine sehr konservative Haltung zurückzubringen. Und ich glaube, dass es diese Spannungen auch heute gibt.

Ein anderer Punkt sind die Fake News. In ihrem Comic beschreiben Sie, wie politische Organisationen und Behörden immer wieder falsch informieren. Können wir aus den 20er Jahren etwas über den Umgang mit Fake News lernen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendwelche Lehren daraus gibt. In meinem Land ist es so, dass 45 Prozent der Menschen unserem Präsidenten glauben, wenn er sagt, dass irgendetwas fake sei. Ich weiß nicht, was wir von der Geschichte wirklich lernen können – auch wenn es damals eine ähnliche Propaganda gab. Ich glaube, die beste Antwort auf die angeblichen Fake News ist bessere Bildung. Denn je mehr die Menschen etwas über die Welt wissen, desto mehr verstehen sie, was Fakten und gute Berichterstattung sind. Ich glaube, Journalismus ist essentiell für eine Demokratie. Ohne Journalismus würde die Welt ganz schnell zusammenbrechen. Ich glaube, die große Lektion, die wir aus der Zeit der 20er Jahre lernen können ist: Die Katastrophe kommt, wenn die Institution Journalismus fällt.

Dieses Gespräch erschien zuerst am 04.02.2019 auf Deutschlandfunk Corso.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.