43 Babys werden von Frauen ohne Partner und ohne jegliche Schwangerschaftsanzeichen geboren, genau in dem Moment, in dem ein berühmter Wrestler einen extraterrestrischen Tintenfisch mit einem gewaltigen Schwinger besiegt. Klingt unvorstellbar? Gerard Way und Gabriel Bá kreieren in ihrer Comic-Reihe „The Umbrella Academy“ eine Alternativweltgeschichte, die der Leserschaft mit dieser Eröffnungsszene ausgebreitet wird.
Auftritt Sir Reginald Hargreeves, seines Zeichens renommierter Wissenschaftler, wohlhabender Unternehmer und Alien. Er macht es sich zur Aufgabe, so viele der mysteriösen Kinder wie möglich zu finden und zu adoptieren. Weshalb? Natürlich um die Welt zu retten! Zumindest ist das seine Antwort für die irritierte Bevölkerung.
Es dürfte mittlerweile keine Überraschung mehr sein, dass es sich bei den unter solch sonderbaren Umständen geborenen Kindern um keine normalen Menschen handelt. Ebensowenig handelt es sich um ein, für unsere Kenntnis, „normales“ Setting. Natürlich ist es vermessen zu behaupten, es gäbe eine generische Normalität in den Reihen aller Comics und deren Genres. Und natürlich setzen die meisten Comics eine gewisse Akzeptanz von ungewöhnlichen Umständen voraus – seien es personifizierte Enten und Mäuse oder fliegende Männer in enger Kleidung. Doch Bá und Way führen mit völliger Selbstverständlichkeit reihenweise Anomalien ein, ohne eine einzige Erklärung irgendwo in ihrem Werk zu verstecken. Der Leserschaft wird einfach gezeigt, dass es in dieser Parallelwelt völlig normal ist, dass Schimpansen sprechend und gleichberechtigt an der menschlichen Gesellschaft teilnehmen, oder dass ein offensichtlicher Kontakt zwischen Erdbewohnern und Außerirdischen besteht. Diese Tatsachen werden mit solch einer Leichtigkeit präsentiert, dass die Leserschaft zwar trotzdem in Staunen versetzt wird und gelegentlich deshalb auch ins Stocken gerät, sich zugleich aber von Neugier gepackt und ohne Umschweife in einer völlig anderen Dimension wiederfindet.Von den insgesamt 43 Kindern findet Hargreeves nur sieben lebend. Er gründet die Heldengruppe „The Umbrella Academy“, gibt seinen Zöglingen sowohl Nummern als auch Pseudonyme und beherbergt sie von diesem Zeitpunkt an in seiner Villa, wo sie zusammen mit dem Schimpansen Dr. Pogo, Hargreeves Bodyguard und Assistenten Abhijat, Hargreeves selbst sowie seiner Frau Grace wohnen. Das Superhero School Setting, das damit geschaffen wird, hat weitaus geringere Auswirkungen auf die Geschichte, als man nun annehmen mag. Natürlich besitzt trotzdem jedes Kind seine eigene Superkraft, die sich im Laufe der Geschichte verstärkt, aber auch dezimiert.
Ein Beispiel dafür stellt #00.03 The Rumor dar, ein Mädchen, das durch ihre Lügen mit sofortiger Wirkung die Realität ändern kann. Im Verlauf der Geschichte verliert sie jedoch ihre Stimme und somit auch ihre Kraft. Im Gegensatz dazu potenzieren sich die Kräfte von #00.01 Spaceboy dessen Auszeichnung von Beginn an Stärke war, nachdem sein Kopf wegen einer gewaltigen Mars-Explosion auf den Körper eines Gorillas transplantiert werden musste. Worum es sich genau bei diesem Unfall handelte, wird der Leserschaft allerdings nicht erklärt – auch hier bleibt die Absurdität unkommentiert. Generell spielen Bá und Way zwar nicht mit dem Verbergen, vielmehr mit dem Auslassen von Dingen und bringen so mehr Komplexität und Mysterien in die Geschichte. Beispielsweise wird kein Wort der Erklärung über #00.06 The Horror verloren, der der Leserschaft nur als Kind an der Seite seiner Adoptivgeschwister kämpfend gezeigt wird, später jedoch verstorben ist. Das einzige, was auf ihn hinweist, sind einige Sätze der Hinterbliebenen sowie eine Statue, die sich in der Auffahrt der Hargreeves Villa befindet. Todesursache und Zeitpunkt bleiben offen. Ebenso wenig erfährt die Leserschaft, ob Haargreves eigentliche Identität als Alien ein Geheimnis ist, das er vor der Welt versteckt hält. Zwar wird gezeigt, dass er immer in der Gestalt eines Menschen agiert, doch bleibt die Frage, ob und warum eine Fake-Existenz in einer Welt, in der ein reger Weltraumaustausch stattfindet, vonnöten ist, offen.
Das Element, das wohl die größte Komplexität in die Geschichte bringt, ist der Charakter #00.05 Number Five: ein Junge, der die Fähigkeit des Zeitreisens beherrscht. Mit zehn begibt er sich 50 Jahre in die Zukunft und sitzt in einer postapokalyptischen Welt fest. Zwar altert er dort normal, doch als er nach weiteren 50 Jahren einen Rückweg findet, landet er in der Gegenwart mit dem Geist eines Sechzigjährigen im nicht alternden Körper eines zehnjährigen Jungen. Dass er vor allem zurückgekehrt ist, um die anderen Mitglieder der Umbrella Academy vor der einsetzenden, von ihnen mitverschuldeten Apokalypse zu warnen, interessiert vorerst niemanden und die von ihm gesehene Zukunft scheint unabwendbar. Man erfährt erst recht spät, dass das Weltuntergangsszenario nur ein kleiner Teil von Number Fives Erlebnissen abseits seiner Superheldenfamilie ist. Die Zeitsprünge und damit verbundene Paradoxa gipfeln in einer Verstrickung, die sowohl die Rettung als auch die Ermordung des 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten, John Fitzgerald Kennedy, beinhaltet.
Bá arbeitet mit einen Zeichenstil, der Comic-Liebhabern die Zeichnungen des „Hellboy“-Writer-Artist Mike Mignola ins Gedächtnis rufen dürfte. Und zu Recht – Bá betont, Mignola gehöre zu den Künstlern, die ihn am meisten beeinflussen. So ist es also kein Wunder, dass der Zeichner die Helden der Umbrella Academy oft in wenigen Strichen, dafür mit vielen Ecken und Kanten durch die Panels beweget. Bá klinkt sich mit seinen harten Linien perfekt in Ways kantige Charakterisierung der Protagonisten ein. Anstelle von Heroismus und Glanz sind Zwietracht, Ignoranz und Neid vorherrschend. Obwohl zu einem Team zusammengestellt und erzogen, interessieren sich nicht alle Helden für diesen konstruierten familiären Zusammenhalt. Während sie von ihrem Ziehvater angehalten werden, die Welt vor immer neuen Bedrohungen zu retten, zerbricht auf der anderen Seite ihre Bindung zueinander und zu ihren Bezugspersonen mehr und mehr. So überrascht es nicht, dass mehrere Mitglieder der Academy den Rücken zuwenden und – ohne großen Erfolg – versuchen, sich fernab der Hargreeves Villa eine normale Existenz aufzubauen.
The Umbrella Academy zeigt seiner Leserschaft Figuren, die niemals Helden sein wollten. Das Comic spielt mit Anlehnungen an tragische Charaktere und Antihelden aus „Watchmen“, präsentiert außergewöhnlich talentierten Personen, die an die Gruppe der X-Men erinnern und krönt all das mit den zerrütteten Verhältnissen einer Familie, die nur durch Zufall zu einer wurde. Trotz aller Referenzen erhält sich des Comic seine Originalität.
11 Jahre nach Veröffentlichung der ersten Issue wurde auf der diesjährigen Comic Convention in San Diego ein 14-seitiges Teaser-Heft veröffentlicht, das die Fortführung der bisher 15 Issues umfassenden Serie ankündigt und hoffen lässt, dass wir bald Antworten auf die vielen offenen Frage erhalten. Eine Verfilmung als Serie startete kürzlich überaus erfolgreich auf Netflix.
To be continued.
Dieser Text erschien zuerst auf: blog.arthistoricum.net
Laura Glötter studiert im Master Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg und verfasst Beiträge für das Themenportal Caricature&Comic. Im Sommer 2017 schrieb sie ihre Bachelorarbeit über die visuelle Narration des finnischen Volksepos in Don Rosas „The Quest for Kalevala“.