Die niederländische Comic- und Trickfilmzeichnerin Aimée de Jongh und der versierte belgische Szenarist Zidrou alias Benoît Drousie lernten sich 2015 kennen. Damals hatte De Jongh gerade ihren ersten Comicroman „De terugkeer van de wespendief“ veröffentlicht, der international erfolgreich wurde, mehrere Auszeichnungen erhielt und 2017 als Grundlage für einen niederländischen Fernsehfilm diente. Die Aufmerksamkeit für De Jongh machte Zidrou auf die junge Zeichnerin aufmerksam, und er schlug ihr eine Zusammenarbeit vor. Diese sollte sich deutlich von den Szenarios unterscheiden, für die Zidrou allgemein bekannt wurde, darunter klassische Stoffe wie „Rick Master“ oder die Familienserie „Wundervolle Sommer“.
Zidrou hatte gleich ein ernsthaftes, erwachsenes Thema im Kopf, aus dem beim gemeinsamen Brainstorming eine Liebegeschichte wurde, die den typischen „Zidrou-Twist“ verpasst bekam. „Das unabwendbare Altern der Gefühle“ basiert zwar auf dem üblichen „Mann trifft Frau“-Muster, doch ist der gerade in den vorzeitigen Ruhestand versetzte Odysseus 59 Jahre alt, als er Mediterranea (62 Jahre) kennenlernt, ehemalige Schönheitskönigin und Nacktmodell. Zwei ausrangierte Protagonisten auf dem Markt der Beziehungssuchenden, wenn man so will. Aber vom ersten Moment an unsterblich ineinander verliebt. Damit stoßen Odysseus und Mediterranea in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis nicht immer auf Verständnis, und gerade damit gelingt Zidrou und De Jongh eine positive, originelle Annäherung an das Thema. Die Geschichte lebt von ihren sowohl schonungslosen wie poetischen Momenten, und die Zeichnungen – auch die der Sexszenen – sind ebenso nüchtern und realistisch wie zärtlich und liebevoll.Wie seid ihr auf das Thema von „Das unabwendbare Altern der Gefühle“ gekommen?
Zidrou: Ich hole mir meine Anregungen aus dem täglichen Leben. Sexualität und Liebe im fortgeschrittenen Alter hat mich schon immer fasziniert, lange bevor ich mich selbst den Sechzig nähere! Solche Stoffe gibt es tatsächlich, und ich komme nicht daran vorbei. Der Drang ist sehr stark, etwas darüber zu schreiben!
De Jongh: Als wir uns in Brüssel zum ersten Mal getroffen haben, hatte Zidrou zwei ältere Szenarios dabei, die er passend für mich fand. Als ich davon sprach, dass ich gerne eine Liebesgeschichte zeichnen würde, verschwanden diese älteren Geschichten in der Schublade. Er hatte Gefallen daran gefunden, eine nicht alltägliche Liebesgeschichte zu schreiben, in der zwei ältere Menschen die Hauptrolle spielen. Das fand ich gleich mutig und es interessierte mich, denn ich konnte mich noch an das Aktzeichnen während meines Studiums erinnern, wo mich die älteren Modelle immer viel mehr als junge Menschen fasziniert haben. Es gab mehr Falten, die Körper „lebten“ einfach, und das war spannender zu zeichnen als glatte, perfekte Körper.
Waren euch die Arbeiten des jeweils anderen ein Begriff?De Jongh: Klar, ich kannte Zidrous Comics, und mich hat schon immer sein Humor und seine Aufmerksamkeit für Details begeistert. Er fing an als Szenarist für humoristische Comics, und trotz der Ernsthaftigkeit seiner neuesten Geschichten hat er sich einen positiven Stil voller Humor bewahrt. Bei ihm wird es niemals schwermütig oder depressiv, auch wenn es um Krankheit oder Tod geht. Unsere Zusammenarbeit funktionierte mit großem räumlichen Abstand, wir haben uns nur selten und kurz gesehen. Manchmal habe ich monatelang gearbeitet, ohne ihm etwas von meinen Zeichnungen zu zeigen. Und dennoch hat er sich immer enthusiastisch über meine Arbeit geäußert, gerade wenn ich unsicher damit war. Er gab mir Selbstvertrauen, das machen nur wenige Szenaristen.
Zidrou: Zeichnen ist für Aimée kein Beruf, sondern Leidenschaft und Notwendigkeit. Die Zeichnungen fliegen ihr aufs Papier, wie Blätter an den Bäumen wachsen.
Wie lange hast du an „Das unabwendbare Altern der Gefühle“ gearbeitet, Aimée?
De Jongh: Erste Skizzen entstanden bereits 2016, aber die erste vollständige Seite habe ich Anfang 2017 gezeichnet. Das war ein langer Prozess, und es wollte mir nicht gelingen, den richtigen Stil zu finden. Ich habe mich unter Druck gesetzt, denn Zidrou ist ein namhafter Szenarist und unser Verlag Dargaud einer der größten Herausgeber. Ich wollte nicht scheitern. Deshalb habe ich immer wieder von vorne begonnen, nichts war gut genug für mich. Und so musste ich mich Ende 2017 richtig beeilen, damit das Buch wie geplant im April 2018 erscheinen konnte.
Weshalb warst du mit deinen Zeichnungen nicht zufrieden?
De Jongh: Ich hatte vor allem Mühe mit der Kolorierung. Die war mir zu „digital“, zu glatt, zu fließend. Sie passte nicht zur Geschichte. Eine herkömmliche Kolorierung wäre viel besser gewesen als eine digitale, aber damit hatte ich keine Erfahrung, und das lernt man auch nicht innerhalb eines Jahres. Ich arbeite ja vor allem in Schwarzweiß, sowohl mit Tinte als auch digital, aber Farbe ist noch einmal eine ganz eigene Sache.
Zidrou, du bist jetzt 57 Jahre alt. Fürchtest du dich davor, im Alter allein zu sein?
Zidrou: Nein, überhaupt nicht. Ich bin eher der Typ, der in ein Flugzeug steigt und bei der Landung drei neue Freunde gefunden und mit der Stewardess ein Tänzchen gewagt hat. Ich bin sehr gesellig. Vielleicht würde mir ein wenig mehr Einsamkeit sogar guttun. Also nein, ich finde es nicht schlimm, allein zu sein.
Aimée, du bist Jahrgang 1988; wie gelang es dir, dich mit den Hauptfiguren Odysseus und Mediterranea zu identifizieren?
De Jongh: Natürlich, denn in gewisser Weise habe ich schon ähnliche Perioden durchgemacht wie sie, also einen Übergang von einer Lebensphase zur nächsten. Sie beenden ihr Arbeitsleben und werden Rentner; ich wechselte vom faulen Studentendasein zum verantwortunsgvollen Leben als Erwachsene. Dennoch habe ich gar nicht richtig mitbekommen, wie ich älter wurde, und so geht es Mediterranea und Odysseus auch. Sie sind älter geworden, sie wissen das, es fühlt sich anders an. Mediterranea erkennt sich kaum wieder, als sie in den Spiegel schaut. Sie sieht nicht nicht mehr aus wie die Prinzessin, sondern vielmehr wie die Hexe aus einem Märchen. Das Leben vergeht immer schneller, als du es dir wünschst.
Zidrou: Warum sollten junge Menschen nicht daran interessiert sein, wie es Senioren ergeht, und andersherum? Du kannst doch auch an der Lebensgeschichte eines japanischen Schlumädchens im 19. Jahrhundert Interesse haben, ohne Japaner zu sein.
De Jongh: Comics werden ja vielfach immer noch auf ihren Unterhaltungswert reduziert, vor allem die für Kinder. Ich hoffe doch wir zeigen, dass Comics weiter gehen als Disney & Co. In unserem Buch sollen sich ältere Leser wiedererkennen, und junge Leser soll es neugierig machen. Ich glaube, dass junge Menschen kaum mit ihren Eltern übers Älterwerden reden und sie nicht danach fragen, wie es ihnen geht, wenn sie in Rente gehen. Ich habe das auch nie getan.
Warum habt ihr euch für dieses unerwartete Ende entschieden?
Zidrou: Mir war es wichtig, dass die Geschichte einen offenen und positiven Abschluss erhält. Auch, weil es sich um eine Fabel handelt. Als Belgier von Geburt an und im Geiste stehe ich auf das Irrationale, Magische und Surrealistische.
Könnt ihr schon von Reaktionen auf das Buch erzählen?
De Jongh: In Frankreich kam während einer Signierstunde eine ungefähr 60-jährige Frau auf uns zu und erzählte mit Tränen in den Augen, wie sehr sie unser Buch berührt hat. Wenn ich daran denke, bekomme ich noch immer Gänsehaut.
Zidrou: Mir fällt auf, dass unser Buch auch von Menschen wahrgenommen und gekauft wird, die normalerweise wenig mit Comics anfangen können, vor allem von Frauen über 50. Und einige von ihnen sind dann überrascht, wenn sie erfahren, dass das Buch von einem Mann geschrieben wurde. Das ist doch ein schönes Kompliment, oder?
Dieses Interview wurde im Oktober 2018 in Stripschrift Nr. 455 erstveröffentlicht. In deutscher Übersetzung erschien es außerdem gedruckt in Alfonz 02/2019. Übersetzung aus dem Niederländischen: Volker Hamann.