Wenn wir uns ein reiches und erfülltes Leben in einer demokratischen Zivilgesellschaft vorstellen – und augenblicklich scheint dies das Schönste, was wir uns auf Erden vorzustellen vermögen -, dann spielt Kultur dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Ein Zusammenspiel von Kunst, Alltagsleben und Wissenschaft. Kultur besteht einerseits aus schönen, interessanten, provozierenden und neuen Dingen und Ideen, die auf verschiedenste, nie ganz erklärbare Weise hervorgebracht werden, und andrerseits aus Menschen, die auf diese neuen Dinge und Ideen reagieren. Mit Wohlgefallen, Widerspruch oder Skepsis. Aber noch etwas gehört zur Kultur. Etwas, das zwischen beidem vermittelt, etwas, das beidem eine gemeinsame Sprache gibt, etwas, das aus vielen individuellen Begegnungen einen gesellschaftlichen Diskurs macht. Nennen wir es: die Kritik.
Im richtigen Leben ist Kritik etwas eher Lästiges, echt wahr. Man kann Leute nicht ausstehen, die dauernd an etwas herumzukritisieren haben. Ehepaare und Familien werden unausstehlich, wenn man einander permanent kritisiert. Und Erziehung, diese notwendige Traumatisierung – besteht sie nicht aus einer vollkommen ungleichen Verteilung des Rechtes auf Kritik und der Pflicht, sich ihr zu unterwerfen? Nichts ist am Ende demütigender, als öffentlich zur (politischen) Selbstkritik gezwungen zu werden.

Ratatouille (2007) (© Walt Disney)
Im Alltag ist Kritik also etwas, das zwar lästig, aber irgendwie auch notwendig ist. Alles kritiklos hinnehmen – das ist kein erwachsenes, demokratisches, vernünftiges Verhalten. Und Kritik als Beruf wird allenfalls als notwendiges Übel angesehen. Natürlich hat es ein Kritiker in Deutschland da schwerer als, sagen wir, ein Kollege in Frankreich; das Kritisieren als intellektuelles Duell, das Zerlegen und „Zersetzen“, die Begegnung der ästhetischen Magie mit der Vernunft der Sprache, das scheint uns nicht so zu liegen. In der Zeit des deutschen Faschismus war Kritik übrigens ganz einfach verboten, nicht nur gegenüber der politischen Führung, sondern auch gegenüber der Kultur, die sie erließ. Und nach dem Krieg konnte und wollte die deutsche Gesellschaft nie mehr an die große Zeit anknüpfen, da in Wien, Prag, Berlin oder Frankfurt Theater-, Film- oder Musikkritik zur hohen Kunst geworden war: Das ideale Begleitmedium zur Sehnsucht nach Freiheit, Vernunft und bürgerlichem Selbstbewusstsein.

Almost Famous (2000) (© Sony Pictures)
Kritik als Beruf ist also in gewisser Weise eine paradoxe Angelegenheit. Man macht das, wennzwar in möglichst ansprechender, offener und ehrlicher Form, was im Alltagsleben eigentlich verpönt ist, und man macht das, was von der Philosophie her eigentlich unmöglich ist, nämlich in jene Regionen hinein denken, zu denen die reine Vernunft eigentlich gar keinen Zugang hat. Jede Kritik grenzt auf der einen Seite an eine Theorie oder ein „Weltbild“ an. Daraus holt man sich Wertmaßstäbe, Methoden und Rechtfertigungen. So gibt es neben der ästhetisch-formalen und der handwerklichen Kritik auch eine soziologische, eine psychoanalytische, eine marxistische oder eine christliche Kritik. Manchmal wissen die Kritiker gar nicht so genau, ob und wie sie die Kritik aus einem weltanschaulichen Modell heraus entwickeln. Das sollten sie aber tun, schon aus einem Gebot der Fairness heraus. Und auf der anderen Seite, das mag nun ein wenig pathetisch klingen, grenzt jede Kritik, vor allem wenn sie über das Geschäft der Tageskritik hinausgeht, auch an einen metaphysischen Bereich. Kritik ist nämlich, ob sie das nun selber weiß oder nicht, ein philosophisches Handeln ins Offene hinaus. Eine Spekulation anhand eines Kunstwerkes, oder auch eines ästhetischen Gebrauchsobjekts. Die Kritik sucht nämlich nach der Bedeutung. Oder noch pathetischer gesagt: Sie sucht nach dem Sinn. Manchmal tut sie das direkt, manchmal eher auf Umwegen. Denn eines hat die Kritik, sie ist ja nicht blöd, ganz bestimmt nicht vor, dem Kunstwerk das Geheimnis zu nehmen. Sie legt nur ein paar Spuren zu ihm.

Fear and Loathing in Las Vegas (1998) (© Universal)
In einem kritischen Text ist der Kritiker zugleich Stellvertreter des Künstlers und Stellvertreter seines Publikums. Er bringt die beiden zu einem imaginären und möglichst offenen Gespräch. Der eine fühlt sich dabei mehr als „Schiedsrichter“, die andere eher als „Gastgeber“, und wieder einer als „Partei“. Manchmal meint ein Kritiker, die Kunst gegen das Publikum verteidigen zu müssen, manchmal ein anderer, das Publikum gegen die Kunst, und gelegentlich spürt man in einem Kritikertext die Verzweiflung darüber, wenn sich beide so gar nicht verstehen wollen. Doch wie dem auch sei: Die Kritik hat offensichtlich eine kulturelle Aufgabe zu erfüllen, bei der es mit ein bisschen Sachkenntnis und einer Portion Anmaßung nicht getan ist. „Es glaube doch nicht jeder, der imstande war, seine Meinung von einem Kunstwerk aufzuschreiben, er habe es kritisiert“ – so drückte es Marie von Ebner-Eschenbach aus. Kritiken, mit anderen Worten, sollen zwar aussehen, als seien sie mit leichter Hand verfasst, aber dahinter steckt so viel Arbeit, so viel Überlegung wie – Selbstkritik.
Wie man ein guter Kritiker wird, weiß ich nicht. Es ist eine Frage des Talentes, der Leidenschaft, der Biographie. Es führen viele, oftmals auch verschlungene Wege zu diesem Berufsbild. Aber so wie der Kritiker lernt, Maßstäbe an die Gegenstände seiner Kritik anzulegen, so könnte er auch lernen, Maßstäbe an die eigene Arbeit anzulegen. Vielleicht sind die folgenden „12 Gebote für Kritikerinnen und Kritiker“ dabei ein wenig hilfreich.

Der Stadtneurotiker (1977) (© MGM)
2. Jeder Kritiker sollte von seinem Gegenstand so viel praktische Kenntnis haben, dass ein Respekt für die Anstrengung und Leidenschaft bleibt, die selbst dem gescheiterten Werk noch anzumerken ist. Kritik und Kunst sollen sich auf Augenhöhe begegnen, und das geht nur, wenn man einander respektiert. Ein solcher Respekt schließt keineswegs die heftige Kontroverse aus, im Gegenteil, doch er gibt der Auseinandersetzung eine Würde, ohne die das ganze Kritikerspiel nur ein eitles und korruptes Gemenge bleibt. Das Wesen der Kunst wie das Wesen der Kritik liegt darin, dass man etwas herausfinden will über die Welt. Man streitet sich, weil man in Wahrheit Verbündeter ist.
3. Nicht die Beurteilung eines Werkes ist das Wesentliche einer Kritik (man kann sogar, behaupte ich, unter Umständen ganz darauf verzichten, eine Bewertung nach Art eines „Kunstrichters“ abzugeben), das Wesentliche ist vielmehr die Schaffung von Zugängen, Lesarten, Vorschlägen und Zusammenhängen. Die Kritik schafft durch Text, Gespräch und Erzählung einen Raum, in dem man sich immer noch frei bewegen und debattieren kann.

Birdman (2014) (© 20th Century Fox)
5. Die Kritikerin oder der Kritiker sind in ihren Texten gegenwärtig, sie sprechen bei allem Wissen über den Stand der Dinge in allen Kontroversen und Debatten, das wir bei ihnen voraussetzen, immer in der ersten Person Einzahl. Das freilich müssen sie kenntlich machen. So klein wie unsere kulturellen Szenen mittlerweile sind, spielen persönliche Dinge stets eine wichtige Rolle, alles steckt voller „Seilschaften“, Beziehungen, Lobst-du-mich-dann-lob-ich-dichs, Lust auf Mittelweg und Verachtung für Außenseiter, voller Sachzwänge (kritisiert wird, was Leser bringt, noch schlimmer: gut kritisiert wird, was Anzeigenkunden bringt), voller ungeschriebener Gesetze und geheimer Absprachen. Wie die Kritik organisiert ist in einer Mediengesellschaft wie der unseren, ist sie alles andere als frei. Es ist nicht der Zensor, der sie bedroht, es ist die Ökonomie. Umso wichtiger ist es, dass die verbliebenen Leser oder Hörer von Kritik im Kritiker noch einen erkennen können, der um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft und der weder sich selbst noch seinem Publikum über die Begrenzungen dieser Freiheit etwas vormacht.
6. Einen Filmkritiker von Rang, zum Beispiel, hat sich Siegfried Kracauer nur vorstellen können, wenn er zugleich Gesellschaftskritiker sei. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass Kritik nicht nur Vorschläge dazu macht, wie die Gesellschaft über die Kunst nachdenken kann, sondern auch dazu, wie man mit der Hilfe des Kunstwerkes – oder auch eines Produktes der Unterhaltungsindustrie – über die Gesellschaft nachdenken kann. Sie hat es nötig. Und deshalb hat der Kritiker nicht nur eine Verantwortung gegenüber seinem Gegenstand, sondern auch eine politische Verantwortung gegenüber seiner Gesellschaft.

Mach’s noch einmal, Sam (1972) (© Paramount)
8. Kritikerin und Kritiker verlangen Kunst und Unterhaltung etwas ab, was sie genuin gar nicht haben müssen, nämlich Moral. Das kann von „sittlicher Entrüstung“ (eher unzeitgemäß) über die Frage nach dem, was Kunst „dürfen“ soll (einschließlich ihrer Übergriffe, ihrer Verletzungen, ihrer Gefährdungen) bis zur politischen Moral reichen: Darf Kunst eigentlich Millionen-Gewinne für reiche Sammler und ihre Agenten abwerfen, wenn gleichzeitig Hunger nach Nahrung wie nach Kultur entsteht? Von der Kunst ist nicht zu verlangen, dass sie sich als moralische Anstalt ansieht, doch den Gebrauch, den eine Gesellschaft von ihren Kunstwerken macht, den kann man sehr wohl unter moralischen Gesichtspunkten sehen. Auch gute Kunst kann böse sein, und auch schlechte Kunst kann gut sein. Kritik ist unter vielem anderen die Kunst, das moralische nicht mit dem ästhetischen Urteil zu verwechseln, und zugleich zu verstehen, wie das Moralische mit dem Ästhetischen zusammenhängt. Kritik um der Kritik willen gibt es im Übrigen so wenig wie es Kunst um der Kunst willen gibt.

Die Verachtung (1963) (© StudioCanal)
10. Ein Kritiker oder eine Kritikerin müssen lieben, wovon sie sprechen, was sie beurteilen, was sie uns aufzuschlüsseln haben. Eine gute Kritik enthält eine Liebeserklärung zwischen Vernunft und Ästhetik.
11. Die Kritik darf sich nicht selber wichtiger nehmen als ihren Gegenstand, sie muss sich auch immer selber in Frage stellen. Eine nicht zu unterschätzende Qualität in diesem Zusammenhang ist der Humor.
12. Eine Kritik muss ihrem Gegenstand in jeder Hinsicht angemessen sein. Es ist beinahe so furchtbar, wenn ein bierernster Kritiker mit Kanonen auf Spatzen schießt, weil er zwischen dem Leichten und dem Schweren keinen Unterschied machen kann – ganz entgegen der Mahnung von Honoré de Balzac: „Die Kritik gleicht einer Bürste. Bei allzu leichten Stoffen darf man sie nicht verwenden, sonst bliebe nichts mehr übrig.“ – wie es furchtbar ist, wenn sich ein Kritiker aufschwingt, ein Kunstwerk zu behandeln, dem er so offensichtlich nicht gewachsen ist. „Kritisiere nicht, was du nicht verstehen kannst“ sang Bob Dylan einst in „The Times They Are A-Changin“; und eine noch schlimmere Kritikersünde wäre, etwas zu kritisieren, weil man es nicht versteht.

Malcolm in the Middle 5. Season (2003) (© Fox)
Aber das ist natürlich nur eine Pointe. Denn in Wahrheit ist ja Kritik nicht nur so gut oder so, hm, weniger gut, wie es die Kritikerinnen und Kritiker sind, sondern die Kultur der Kritik hängt entscheidend vom medialen, politisch-ökonomischen und geistigen Umfeld ab. Die Kritik kann nur so gut sein, wie nach ihr verlangt wird. Einer Kritik von Rang indes wird derzeit in unserer Gesellschaft schlicht der Boden unter den Füßen weggezogen, und im Gegensatz zu einigen unserer Nachbarländern scheint dies auch nur wenige Menschen sonderlich zu bekümmern. Die Hauptursachen für das Verschwinden der Kritik sind schnell benannt:
Der Verlust an immer mehr Medien, die vordem die Kritik wahrhaft gepflegt haben (einschließlich der Möglichkeit, jungen Kritikern Gelegenheit zum Lernen, zum Experiment und auch einmal zum Scheitern zu geben). Wenn wir uns damit trösten, dass die Kritik ja nur in neue Medien abwandere, dass längst nicht mehr das Feuilleton der Zeitungen, sondern der Austausch im Internet über die Akzeptanz oder Ablehnung von ästhetischen Produktionen entscheidet, tut es gut, an Marie von Ebner-Eschenbach zurückzudenken. Der Austausch von Meinungen, Urteilen und Geschmacksempfindungen ist nicht das, was wir als Kritik definiert haben. Wo viel geschrieben wird, entsteht noch lange nicht Kritik von Rang. Aber, damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch im Internet gibt es diese Kritik von Rang. Sie hat es dort allerdings mindestens genauso schwer, wie sie es in den alten Medien hatte. Nur dass sie hier nicht einmal mehr ein ökonomisches Auskommen findet.

Inglourious Basterds (2009) (© Universal)
Die ökonomische Verzahnung nimmt in dramatischem Maße zu. Wie sollten unabhängige Autoren arbeiten in Medien, die selber so abhängig sind? Bald, so scheint es, sind Kritiker nur noch dazu da, verkaufsträchtige Schlagzeilen für die Werbeabteilungen zu liefern und die Konsens-Geschmäcker von kulturellen Konsumentengruppen zu bedienen. Die kulturelle Auseinandersetzung nähert sich immer mehr den Regeln der Unterhaltungsindustrie an. Und im Überlebenskampf, machen wir uns nichts vor, darf auch in den Kritik-Abteilungen der Kultur niemand mehr zimperlich sein.

Alles über Eva (1950) (© 20th Century Fox)
Wie soll unter diesen Umständen Kritik noch einmal jene Position erreichen, die sie allein legitimiert, nämlich ihre Unabhängigkeit? Die angemessene Reaktion ist nicht: „Früher war alles besser“, sie lautet: Wir müssen es besser machen. Die Kritik, wenigstens das, muss so gut sein, dass man wissen kann, was man mit ihr zu verlieren droht.
Dieser Text erschien zuerst am 11.12.2012 in: getidan.de
Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien in der Edition Tiamat Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.