Politische Kämpfe und Dystopien – „George Orwell“

England in den 20ern: Der kleine Eric Blair lebt mit seiner mondänen Mutter, der Vater absolviert in Indien den Militärdienst. Als Nachrücker schafft er es auf die Nobelschule St. Cyprian‘s, wo ein eisernes Regime herrscht, das ihn schließlich bis zur Eliteschmiede Eton bringt. Von dort führt sein Weg nicht wie üblich nach Oxford. Wohl auch unter dem Eindruck der Karriere des Vaters meldet er sich zum Polizeidienst in Burma, wo er die Machtmechaniken des englischen Empire kennenlernt. Zurück in England unternimmt er erste Versuche als Journalist und taucht mit seinem Kumpel Paddy tief in die Arbeiter- und Armenschicht ein, durchstreift die Massenunterkünfte und Pubs und entwickelt zunehmend linke Ideen. Daran ändert auch die Heirat mit Eileen O’Shaughnessy nichts: Blair stürzt sich wie viele seiner linksintellektuellen Zeitgenossen in den spanischen Bürgerkrieg, überlebt dort nur mit großem Glück eine Halsverletzung und kehrt nach England zurück.

Pierre Christin (Autor), Sébastien Verdier (Zeichner): „George Orwell“.
Aus dem Französischen von Anja Kootz. Knesebeck, München 2019. 152 Seiten. 25 Euro

Angetrieben von tiefer Zivilisationsskepsis, Abneigung gegen Großstädte (er zieht es vor, ohne großen Komfort auf dem Land zu leben) und einer durchaus ausgeprägten Heimatliebe schreibt Blair Reportagen für linke Zeitungen und unternimmt auch die ersten Gehversuche als Schriftsteller. Mit Werken wie „Katalonien“ und „Burmese Days“ macht er auf sich aufmerksam, aber der große Durchbruch gelingt ihm erst mit „Animal Farm“, was er schon unter dem Pseudonym George Orwell veröffentlicht – der bitteren antiutopischen Fabel, die eine Abrechnung mit dem von ihm einst durchaus geschätzten Kommunismus darstellt. Zunehmend geschwächt von einer fortschreitenden Tuberkulose und geprägt von einem tiefen Kulturpessimismus, zieht sich Orwell schließlich auf die einsame Insel Jura vor der Küste Schottlands zurück, um dort einen Roman fertigzustellen, der unter dem Arbeitstitel „The Last Man“ die finstere Zukunftsvision eines totalitären Überwachungsstaates enthüllen soll…

Pierre Christin („Valerian & Veronique“) bürgt eben für Qualität. Der rührige Franzose entfaltet hier die bewegte Lebensgeschichte eines der einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts in prägenden Episoden, die den Weg vom überzeugten Sozialisten hin zum desillusionierten Kritiker der conditio humana nachzeichnen. Eric Blairs zunehmende Skepsis gegenüber Systemen jeglicher Art erscheint in zentralen Episoden, die Stationen seines Lebens erscheinen folgerichtig bis hin zur Kulmination in jenem Roman, den er kurz vor seinem Tod gerade noch abschließen konnte und dessen Titel aus der umgestellten Jahreszahl 1948 herrührt.

In seinem Nachwort skizziert Christin dann auch die anhaltende Relevanz des Orwellschen Gedankenguts, das nach dem Scheitern des Sozialismus eigentlich doch obsolet sein sollte: In Zeiten von Fake News, sozialem Engineering und gesellschaftlicher Mobilität, die allesamt hässliche Realitäten hübsch ummanteln, lebt das von Orwell geprägte Neusprech genauso weiter wie die konstante Überwachung, die den großen Bruder gar nicht braucht, sondern einfach nur Katzenvideos in den sozialen Netzwerken einsetzt und damit freudig alle Daten einsammelt. Äußerst geschickt auch der Kunstgriff, wie zentrale Werke Orwells mit eingebaut sind: jeweils in künstlerischer Ausformung durch Genregrößen wie Juanjo Guarnido („Blacksad“, „Der große Indien Schwindel“), Manu Larcenet („Brodecks Bericht“), André Juillard („Die 7 Leben des Falken“) oder Enki Bilal („Alexander Nikopol“) sind elementare Szenen aus „Animal Farm“, „Burmese Days“ oder „Mein Katalonien“ enthalten. Faszinierend, aufschlussreich und zeitlos.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

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