Die französische Journalistin Doan Bui, Chefreporterin des renommierten Nachrichtenmagazins „L’Obs/Le Nouvel Observateur“, schreibt seit Jahren über die globalisierte Welt der Verschwörungsmystiker und professionellen Online-Lügner. Ihre Reportagen, Analysen und Betrachtungen über die „Fake News“-Produzent*innen und -Konsument*innen hat sie zusammen mit der Zeichnerin Leslie Plée als mal augenzwinkernden, mal schockierenden und stets informativen Sachcomic zusammengetragen. 2011 schrieb Bui eine Reportage über das Phänomen Spam-Betrug und fragte sich, warum Menschen auf diesen Schwindel reinfallen. „Die Menschen, die solchen Irreführungen Glauben schenken, sind alles andere als dumm. Sie fühlen sich jedoch allein und wollen daran glauben. Deshalb kommen die Betrüger damit durch. Genauso verhält es sich mit den Fake News.” Das war der Anfang einer Serie von Artikeln und Recherchereisen zum Thema „Fake News“ – ein Thema, das 2015 mit der Flüchtlingskrise in Europa und dann 2016 mit der Trump-Wahl omnipräsent wurde. Doan Bui interviewte Trump-Anhänger*innen, porträtierte Klimaleugner*innen und Impfgegner*innen, sie besuchte „Fake News”-Fabriken in Mazedonien, trieb sich auf Demos und Verschwörer*innen-Kongressen herum.
Zusammen mit der französischen Zeichnerin Leslie Plée, mit der sie bereits einen Reportage-Comic über den Prozess gegen die islamistischen Attentäter von Toulouse umgesetzt hatte, hat sie nun ihre gesamte „Fake News”-Expertise in Comicform gegossen. An Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ angelehnt reist das Comic-Alter-Ego von Duan Bui in ihrem Sachcomic „Glauben Sie an die Wahrheit?“ durch die Welt der digitalen Lügner, Spam-Könige und Berufstrolle. Die Journalistin führt Kapitel für Kapitel in die (oft überlappenden) Verschwörungsszenen ein, zeigt die historischen Wurzeln des methodischen Lügens als politische Strategie auf (Stichwort: „Die Protokolle der Weisen von Zion“) und setzt sich mit den psychologischen Mechanismen auseinander, die uns dazu verleiten, Online-Lügen Glauben zu schenken. Im folgenden Presse-Interview spricht Doan Bui über ihre Arbeit.
Liebe Doan Bui, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns über ihre Graphic Novel „Glauben Sie an die Wahrheit?“ zu sprechen. Würden Sie uns zunächst ein wenig über sich erzählen? Wann und wie sind Sie zum Journalismus gekommen? Was hat Sie an diesem Beruf interessiert?
Ich wurde im Oktober 1974 als Tochter vietnamesischer Eltern in einer französischen Kleinstadt namens Le Mans geboren. Zu dieser Zeit gab es dort nur sehr wenige Einwanderer und in der Schule war ich stets die einzige „Nicht-Weiße“, was durchaus spannend war! An meinem ersten Schultag konnte ich kein Wort Französisch sprechen. Das kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen, denn im Laufe der Jahre vergaß ich irgendwie meine vietnamesische Muttersprache in meinem Bestreben, eine „perfekte“ Französin zu werden. Ich war von klein auf ein Bücherwurm und habe insgeheim wohl schon immer davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. Es schien mir allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, denn dieser Beruf war doch den „vrais Français“, also den richtigen, den weißen Franzosen vorbehalten und nicht Einwandererkindern wie mir.
In meiner Familie wurde zudem der Vietnamkrieg totgeschwiegen, deshalb hatte ich unbewusst schon immer das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen. Mir lag es am Herzen, all die unerzählten Geschehnisse aufzuschreiben. Ich denke, das war in all den Jahren mein größter Ansporn als Journalistin.
„Glauben Sie an die Wahrheit?“ ist nicht Ihre erste Graphic Novel. Sie haben bereits einen Kurzcomic über Vietnam geschrieben sowie kürzlich in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Leslie Plée eine journalistische Graphic Novel, die sich mit dem Merah-Prozess und seiner Auswirkung auf die französische Gesellschaft beschäftigt. Wann haben Sie das Medium Comic als Werkzeug für Ihre journalistische und dokumentarische Arbeit entdeckt?
Ich bin ja in Frankreich geboren und habe meine Kindheit nicht in Vietnam, sondern in Le Mans verbracht. In dem Kurzcomic wollte ich von meinen Schwierigkeiten als „Bananenkind“ – außen gelb, innen weiß – erzählen, die auch in meiner ebenfalls in Deutschland erschienenen Autobiographie „Das Schweigen meines Vaters“ (Sujet Verlag) eine Rolle spielen.
Das erste Mal, dass ich mit dem Format Graphic Novel in Berührung kam, war mit der Illustratorin Tiphaine Rivière für den besagten 30-seitigen Kurzcomic, der von dem Vietnamkrieg und meiner französisch-vietnamesische Identität handelt. Es ist großartig, mit einem Zeichner zusammenzuarbeiten, denn man lernt von dessen künstlerischen Fähigkeiten. Außerdem spricht man ein anderes Publikum an, indem man seine Geschichte auf eine andere Art und Weise erzählt. Das Misstrauen der Menschen gegenüber den Medien wächst zunehmend und mit dem Medium Graphic Novel kann man eine ganz andere Leserschaft erreichen. Sie müssen wissen, dass ich in meiner Funktion als Journalistin ehrenamtlich Schulen besuche. Dabei kommen so viele Fragen zu Fake News auf… Das war für mich der Anlass, diesen Comic darüber zu machen. Ich dachte, es sei ein nützliches Hilfsmittel für Lehrer und Schüler zugleich.
Wie sind Sie auf Leslie Plée gekommen und was hat Sie an ihrem Zeichenstil angesprochen, der ja sehr persönlich und „cartoonhaft“ ist?
Meine Töchter und ich waren bereits Fans von Leslie, deshalb wollte ich schon mit ihr an meiner ersten Graphic Novel über Terrorismus zusammenarbeiten. Auch in diesem Comic lag mein Interesse auf der Frage zur Identität: Was veranlasst junge Franzosen, ihr Heimatland zu verlassen, um nach Syrien zu gehen und sich dem IS anzuschließen? Ich habe über die Jahre viele Terrorismus-Prozesse verfolgt und kann daher sagen, dass die meisten dieser Extremisten Probleme mit ihrer Identität und ihrer Beziehung zu Frankreich hatten. Mir ist klar, dass es sich dabei um ein sehr schwieriges und tragisches Thema handelt, und genau deshalb wollte ich in grafischer Hinsicht einen Kontrast dazu setzen. Mir schwebte eine persönliche, poetische und comicmäßige Gestaltung vor, so ähnlich wie bei Sempé. Leslie traf den Nagel auf den Kopf. Zum Beispiel haben wir uns in beiden Graphic Novels mit dem schrecklichsten Thema überhaupt auseinandergesetzt: dem Tod von Kindern. Wie verpackt man das am besten? Voller Anspielungen, mit wechselnden Farben hat Leslie es geschafft, den Geist des toten Kindes heraufzubeschwören.
Kommen wir auf „Glauben Sie an die Wahrheit?“ zu sprechen. Erinnern Sie sich an das erste Mal, dass Ihnen als Journalistin die Häufung von Fake News im Internet und der Einfluss dieses Phänomens auf gesellschaftliche Entwicklungen aufgefallen ist? Wann haben Sie sich zum ersten Mal beruflich mit diesem Thema auseinandergesetzt? Und wann haben Sie beschlossen, diesen Sachverhalt in einem Comic aufzugreifen?
Die erste Geschichte, die ich schrieb, war 2011 über diese nigerianischen Spam-Mails, die wir alle schon einmal erhalten haben. Aber damals schienen nur Einzelpersonen von diesen Betrügereien betroffen zu sein und es wurde nicht zum politischen Thema. Auch wenn es der gleiche Mechanismus war. Die Menschen, die solchen Irreführungen Glauben schenken, sind alles andere als dumm. Sie fühlen sich jedoch allein und wollen daran glauben. Deshalb kommen die Betrüger damit durch. Genauso verhält es sich mit den Fake News. Sie funktionieren, weil die Menschen daran festhalten wollen. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Furcht und Angst, also klammern sich die Menschen an irgendwelche Überzeugungen. Es ist wie eine neue Religion. Ich glaube, so richtig bewusst wurde mir die Tragweite dieses Phänomens nach 2015, als ich mich mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzt habe und dabei auf unzählige Falschmeldungen gestoßen bin. Und dann war da natürlich die Trump-Wahl im Jahr 2016.
Über die Jahre haben Sie zahlreiche Berichte über Fake News, Verschwörungsgruppen und Hate Speech rund um den Globus verfasst. Sehen Sie diese Entwicklungen der letzten Jahre als ernsthafte Bedrohung der Demokratie? Und haben Sie den Eindruck, dass westliche Regierungen und Medienunternehmen dieses Thema ernst genug nehmen?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir diesem Problem genug Beachtung schenken. Es ist schwer, dagegen anzukämpfen. Wir haben unsere Zukunft in die Hände von GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon) gelegt. Unsere Freiheit haben wir bereitwillig dem Algorithmus überlassen. Und dafür zahlen wir nun den Preis: Fake News verbreiten sich immer schneller. Seit der Pandemie ist es noch schlimmer geworden. Ich habe über den Krieg in der Ukraine berichtet. Auch vorher schon war ich mit der russischen Propaganda vertraut. Dennoch war ich schockiert darüber, wie ukrainische Familien aufgrund dieser Volksverhetzung gespalten wurden. Eltern, die in Russland lebten und Putin unterstützen, wollten es schlichtweg nicht wahrhaben, dass ihre eigenen Kinder von Putin bombardiert wurden. Das Gleiche gilt für Belarus. Es ist erschreckend. Ich war in Butscha. Ich habe die Massengräber gesehen. Die Leichen. Die trauernden Familien. Dennoch gibt es viele Leute, selbst in Frankreich, die behaupten, dass das Ganze eine Täuschung sei, dass auch ich manipuliert worden sei! Es ist so schwer, dagegen anzukommen. Nach dem Amoklauf von Sandy Hook in den USA fand ich mich in der gleichen Situation. Verschwörungstheoretiker wollten mich überzeugen, dass man mich hinters Licht geführt habe. Wenn ich dagegen argumentierte, dass ich die verzweifelten Eltern getroffen und vor den Gräbern dieser jungen, verstorbenen Kinder gestanden habe, fragten sie mich: „Okay. Aber haben Sie sich auch die Gräber öffnen lassen?“ Was soll man auf diesen Wahnsinn antworten?
Am irrsinnigsten war es, eine Konvergenz zwischen all den Verschwörungstheoretikern festzustellen: Pro-Trump, Unterstützer Putins, Ukraine-Gegner, Anti-Vax, QAnon… und in Deutschland zum Beispiel die Reichsbürger und Querdenker! Ich folge einigen von ihnen und sie alle behaupten, dass Butscha nichts als ein Film sei, der von den USA und Selenskyj inszeniert wurde…
In Ihrem Buch gehen Sie auf die Verantwortung der GAFA-Konzerne für die Verbreitung von Fake News ein, welche vor allem auf die von Algorithmen erzeugten Filterblasen zurückzuführen ist, in denen den Menschen nur Inhalte angezeigt werden, die ihre (oft falsche) Weltanschauung untermauern. Letztes Jahr wurden die sogenannten „Facebook Files“ durch eine Whistleblowerin enthüllt. Diese Dokumente haben bewiesen, dass Facebook die schädlichen Einflüsse ihrer Algorithmen intern untersucht und sich dennoch entschieden hat, nichts daran zu ändern. Warum ist es so schwierig, diese Konzerne zu kontrollieren und was können wir als Verbraucher*innen gegen diese Entwicklungen tun?
Die Regierungen der einzelnen Länder sollten sich zusammenschließen und scharfe Wirtschaftssanktionen gegen die GAFAs verhängen. Europa allerdings ist dafür zu uneins. Auch die USA haben eine andere Agenda. Wir haben also keine gemeinsame Taktik und somit keine Chance, gegen diese mächtigen, globalen Unternehmen anzukommen… Sicher könnten wir uns als Verbraucher weigern, sie zu nutzen. Aber sie haben uns bereits völlig eingenommen. Zum Beispiel wird Google in vielen Unternehmen als Arbeitswerkzeug genutzt. Vor 20 Jahren hatte Microsoft diese Art von Monopol, aber es war weniger problematisch, weil es unser tägliches Leben nicht so sehr beeinflusst hat. Unsere Gesellschaft wird immer mehr von Algorithmen gesteuert. Ich finde das sehr beängstigend, aber ich sehe keinerlei Initiative, die etwas dagegen unternimmt. Vielleicht sollten die Verbraucher in den Streik treten, indem sie zum Beispiel regelmäßig einen Tag lang kein Google oder Facebook nutzen.
In dem Kapitel über die „Fake-News-Fabriken“ ziehen Sie einen ziemlich traurigen Vergleich zwischen klassischen Medien und Fake-News-Seiten: Eine Journalistin wie Sie braucht mehrere Wochen, Dutzende von Interviews, Redakteure, Korrekturleser, Grafiker und so weiter, um zum Beispiel eine Geschichte über eine Fake-News-Schmiede in Nordmazedonien oder Russland zu schreiben und zu veröffentlichen. Fake-News-Websites dagegen können in der gleichen Zeit hunderte gefälschte Artikel produzieren und posten. Wie können die „echten“ Medien dieser Flut an Falschmeldungen entgegenwirken und dabei den journalistischen Grundsätzen treu bleiben?
Berichterstattung kostet Zeit und Geld. Leider reicht es manchmal nicht, gegen diese Fake-Posts zu kämpfen. Wir dürfen jedoch nicht aufgeben. Wir müssen die Fakten besser checken. Wir sollten uns auch unbedingt zum Ziel setzen, die Verbindung zwischen Medien und Zivilgesellschaft wiederherzustellen und mehr Medienbildung zu betreiben. Journalisten sollten in die Schulen gehen, um die Kinder zu informieren und unsere Arbeit zu erklären. Jedes Mal, wenn ich das tue, sehe ich, wie hilfreich es ist. Es ist die beste Möglichkeit, die jungen Leute aufzuklären, damit sie sich der Falschmeldungen bewusst werden und den Unterschied zwischen Fake News und Journalismus kennen. Wir müssen daran arbeiten, Bewusstsein für unsere Arbeit zu schaffen.
Um wieder auf das Thema Identität zurückzukommen: Ich denke, das Problem liegt auch darin, dass wir Medienleute die Gesellschaft nicht ausreichend repräsentieren, sodass wir manchmal keinen richtigen Draht zu ihr haben. Diese Verbindung gilt es wiederherzustellen.
In einem der letzten Kapitel blicken Sie in die Vergangenheit und gehen auf frühe Verschwörungsmythen und Fake-News-Operationen ein, bspw. die Kampagne gegen Léon Blum oder die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“. Welche Techniken wurden von Fake-News-Machern im 19. und frühen 20. Jahrhundert eingesetzt und wie sehr haben sie sich im digitalen Zeitalter verändert?
Es ist eine interessante Tatsache, dass Fake News schon so lange in unserer Geschichte verankert sind. Der Mechanismus ist genau der gleiche. Wenn Angst aufkommt, müssen die Menschen jemanden finden, den sie hassen können, wie zum Bespiel nach der Französischen Revolution, als die Priester die Illuminati-Verschwörung in die Welt setzten. Der Antisemitismus spielt da auch mit hinein und ist leider schon seit Jahrhunderten ein sehr effizientes Mittel, einen bestimmten Teil der Gesellschaft auszugrenzen. Die gleiche Vorgehensweise wird jetzt bei den „White Supremacists“ deutlich, die den gleichen Mist aus der ganzen Welt glauben – sozusagen globalisierten Nonsens. Was ist der Unterschied? Im digitalen Zeitalter verbreiten sich Informationen viel schneller. Der deutsche Neonazi, der in Halle einen Terroranschlag verübte, wurde von Brenton Tarrant „inspiriert“, dem australischen Terroristen, der in einer Moschee ein Massaker an Muslimen verübte. Die Globalisierung ist ein sehr mächtiges Werkzeug für Fake News.
Ihr Thema ist sehr ernst und verstörend, aber Sie präsentieren es auf eine sehr humorvolle, geradezu lässige Weise. Wie wichtig ist Ihnen Humor beim Erzählen einer Geschichte? Und welche Rolle spielten Leslie Plées grafischer Stil und ihre Erzählweise bei der Umsetzung des Humors in Ihrem Buch?
Danke für das Kompliment! Humor ist sehr, sehr wichtig für mich, sogar lebenswichtig. Als Journalistin und Schriftstellerin habe ich mich mit vielen tragischen Schicksalen befasst. Und ich denke, dass wir selbst in den schlimmsten Zeiten Humor brauchen, um mit den Situationen klarzukommen. Leslie ist dafür genau die richtige Komplizin. Sie mag platte Witze genauso sehr wie ich.
Was ist die verrückteste Verschwörungstheorie, auf die Sie bei Ihren Recherchereisen gestoßen sind?
Die irrsinnigste und lustigste Verschwörungstheorie ist die der „Flat-Earther“. Der „Flat Earth“-Kongress war die verrückteste Veranstaltung, an der ich je teilgenommen habe. Alle Vertreter dieser „Scheibenerde“-Bewegung mit ihren YouTube-Kanälen waren dort und erklärten, dass wir seit Jahrhunderten belogen und betrogen wurden, dass niemand jemals auf dem Mond war. Ja, und es war tatsächlich Stanley Kubrick, der die Bilder dazu aufgenommen hat. Die einzigen, die „Globisten“ waren, die also nicht glauben, dass die Erde flach ist, waren die Leute von der Presse. Ich kam dort mit einem Mann mit Presseausweis ins Gespräch und hielt ihn für einen Reporter wie mich. Es stellte sich allerdings heraus, dass er ein „investigativer Journalist“ war, der für eine Dokumentation recherchierte, die beweisen würde, dass die Erde flach sei!