Ein übersehener Landstrich – „Freistaat Flaschenhals“

Nach dem Ersten Weltkrieg unterläuft den Siegermächten USA und Frankreich ein Vermessungsfehler, der kuriose Folgen nach sich zieht: Zwischen den gebildeten Brückenköpfen der Amerikaner (bei Koblenz) und der Franzosen (bei Mainz) übersieht man im Jahre 1919 einen schmalen Streifen, zwischen weniger als einem und bis zu zehn Kilometer breit. Das Aussehen des Streifens ähnelt einem Flaschenhals. Die knapp über 17.000 Einwohner, verteilt auf ein paar Ortschaften, von denen Lorch am Rhein die größte ist, sind fortan von der Außenwelt, also vom Deutschen Reich, abgeschnitten. Das Betreten der Besatzungszonen ist verboten, sämtliche Zugangsstraßen sind gesperrt, Schiffe und Züge dürfen nicht mehr halten. Unter der Führung des Bürgermeisters von Lorch, Edmund Anton Pnischeck, ruft man den Freistaat Flaschenhals aus und will sich selbst versorgen (inkl. eigenem Geld), was freilich nur durch gefährlichen Schschwarzhandel möglich ist. Denn überall an den Grenzen patrouillieren französische Soldaten. Dennoch, mit Glück, List und Einfallsreichtum, gelingt es bis Februar 1923, den Mikrostaat aufrecht zu erhalten. Dann besetzen die Franzosen das Gebiet.

Marco Wiersch (Autor), Bernd Kissel (Zeichner): „Freistaat Flaschenhals“.
Carlsen, Hamburg 2019. 208 Seiten. 20 Euro

Drehbuchautor Marco Wiersch (u. a. „Der Fall Barschel“, „Tatort“), der hier seinen ersten Comic vorlegt und Zeichner Bernd Kissel („Münchhausen“, mit Flix) haben sich dieser skurrilen und nicht jedem bekannten Episode aus der deutschen Historie angenommen und erzählen die Geschichte des Flaschenhalses am Beispiel einer Handvoll Personen. Hauptakteur ist Kriegsheimkehrer Albert, der wieder zu seiner Mutter und seiner Schwester nach Lorch kommt. Sein Bruder Paul ist im Krieg gefallen. Bald beginnt er mit der gebildeten Luise, die als Sekretärin für Bürgermeister Pnischeck arbeitet, ein Verhältnis. Dann ist da noch Hans, Alberts bester Freund, der sich selbst heimlich nach Wiesbaden schmuggelt, wo sein Herzblatt Rachel lebt, die er später auch heiraten wird. Albert ist an vielen Aktionen beteiligt, die geschichtlich belegt sind. Er fährt die Postkutsche (!), die die einzige Verbindung nach Limburg darstellt, mischt beim Schmuggel über dem Rhein mit, begleitet Pnischek bei seinen politischen Missionen und klaut als ehemaliger Lokführer gleich einen kompletten Kohlenzug von den Franzosen.

Die episodische Handlung, die mit humorigen wie auch tragischen Szenen punktet, ist für den geschichtsunkundigen Leser nicht immer leicht zu verfolgen, aufgrund diverser Sprünge und unkommentierten Geschehnissen. Viel mehr Spaß macht die Graphic Novel, wenn man zuerst das Nachwort der Politikwissenschaftlerin Dr. Stephanie Zihell liest, das die Geschichte des Freistaates Flaschenhals inklusive der politischen Zusammenhänge auf wenigen Seiten schildert. Zeichnerisch kann der Band durchgehend punkten. Mit diversen Stilmitteln und originellen Einfällen, wie einem überdimensionalen Zirkel, der symbolisch durch einen Acker pflügt und so eine willkürliche Grenze bestimmt; stillen Episoden, wie die Begegnung Alberts mit einem französischen Grenzposten, der wie sein Bruder Paul heißt und ihm später immer wieder helfen wird; oder dem letztendlichen Einmarsch der Franzosen (aufgrund nicht geleisteter Reparationslieferungen Deutschlands), der in gleichgroßen Panels mit schnellen Wechseln zwischen den verschiedenen Orten dargestellt wird. Nach einem mahnenden Ausblick auf die Nazizeit kommt die Geschichte zu einem versöhnlichen Ende. Ein Band, der schön, aufschlussreich und informativ ein kurioses Stück deutscher Geschichte schildert.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

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