Die Angst ist schwarz wie die Nacht. Oder schwärzer. Nachdem Ulli vergewaltigt worden ist, legt sie sich in eine der kleinen Strandhütten, erschöpft und am Ende. Der Himmel über dem Meeresstrand ist monochrom schwarz, ein unheilvoller Farbton. Wie unterschiedlich ein und dasselbe Schwarz wirken kann, denkt man. Romantik ist das letzte, was einem zu dieser schrecklichen italienischen Nacht einfällt. Längst fühlt man sich als männlicher Leser nicht mehr wohl in seiner Haut. Man hat aufgehört, sie zu zählen – all die sexgeilen Idioten, all die aufdringlichen, gefährlich brutalen Machos. Die Nacht mit dem Sizilianer Guido, der sich in einer eindrucksvoll harten Bildfolge in einen reißenden Wolf verwandelt, ist der grausame Tiefpunkt einer Italien-Reise Anfang der achtziger Jahre. Im Röntgenblick der Zeichnerin verwandelt sich die Hütte, in die sie sich zurückzieht, in ein grünes Haus vom Nikolaus; ein Panel später ist es in schwarze Tusche getaucht. In der linken Ecke liegt Ulli, die Punkerin, eingerollt in einen Schlafsack. Sie zittert. Wellenlinien. Oben am Bildrand ist zu lesen: „Und dann kam die Angst.“ Ein paar Seiten weiter besteht ihr Körper nur noch aus einzelnen Strichen, sieht aus wie durchsichtig. Sie denkt: „Frauen, die vergewaltigt wurden, müssen sich immerzu waschen, weil sie sich beschmutzt fühlen … Hmm … Ich habe eine Stinkwut!“ Wut und Angst also und dazu Bilder, an die man sich lange erinnern wird, ob man will oder nicht.
Dass sie jetzt erst kommt, die Angst, in der zweiten Hälfte des Buches, ist eigentlich erstaunlich, zeigt aber auch, wie tough und unbefangen die Protagonistin ist. Sie ist mit einer Offenheit gegenüber der Welt begabt, die davon lebt, die Möglichkeit des Scheiterns immer schon einkalkuliert zu haben. Punk eben. Es gibt bekanntlich zahlreiche Milieus, in denen eine weniger kaputte und harte Gangart gepflegt wird. Die Gier nach dem wirklichen Leben da draußen verliert Ulli daher bis zum Schluss nicht ganz, obwohl doch so vieles schiefgeht auf dieser Odyssee zweier 17jähriger Punkerinnen durch das Italien des Jahres 1984.Ulli Lusts ziegelsteinschwere, inhaltlich und zeichnerisch höchst bemerkenswerte Graphic Novel heißt „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“. Der Titel spiegelt zum einen Ullis offensives Lebensmotto, jeden Tag so zu leben, als sei er der letzte; zum anderen spielt er auf die Gefahr an, der sich Ulli auf ihrer Reise von Wien nach Palermo ausgesetzt sieht. Einem Mafioso, in dessen Villa sie für kurze Zeit unterkommt, eine harsche Abfuhr zu erteilen, ist riskant und erfordert eine Menge Mut.
Das Buch der 1967 geborenen, seit 1995 in Berlin lebenden Comic-Künstlerin erzählt die autobiografische Geschichte mit meist reduziertem, rauem Strich, diskret ausgetuscht in Schwarz, Grün und einem Weiß mit leichtem Gelbstich. Ulli Lust hat ihrem Comic-Epos allerhand Notizen und Tagebucheinträge von damals beigefügt. Sie verleihen dem Buch dokumentarische Qualität. Viele Bildfolgen tragen skizzenhaft realistische Züge; ihre jähe Transformation ins grell Karikatureske und bedrohlich Surreale setzt die Geistes- und Gefühlszustände der Protagonistin nachdrücklich in Szene.
Zwei Monate lang reist Ulli ohne Papiere und Geld, vorbei an den Grenzposten, über die Alpen nach Verona und Neapel, dann in den Süden, um der kalten Jahreszeit zu entkommen. Sie reist mit ihrer Freundin Edi, die sie kurz zuvor in ihrer Clique in Wien kennengelernt hat. Edi ist ziemlich sexbesessen, überaus neugierig auf körperliche Erfahrungen. Sie sagt: „Ich steh’ auf Vögeln. Ficken ist meine liebste Freizeitbeschäftigung.“ Irgendwann geht sie anschaffen, für Geld, das sie vor allem für Drogen verbraucht, und aus Spaß. Ulli kann das nicht.
Obwohl auch sie Sex hat. Meistens ist der nicht so toll. Eine Weile reist sie auch mit Andreas herum, einem Junkie, der keine Sekunde lang auf die Idee kommt, nicht nur an sich und seine Bedürfnisse zu denken. Eigentlich denken auf dieser Reise alle nur an sich. Irgendwann verliert Ulli ihre Begleiter aus den Augen, trifft ein paar neue Leute, findet ihre Freunde wieder, lernt Hunger, Einsamkeit und Verrat kennen, vor allem aber Gewalt und Angst. Besonders schlimm wird es im Süden Italiens, weil dort jede Frau, die ohne Begleiter herumläuft, als Freiwild gilt.Man kann davon ausgehen, dass Ulli Lusts Sicht auf die Dinge keineswegs brutaler ist als das Erlebte. Leicht ist es ihr nicht gefallen, ihre Geschichte zu Papier zu bringen. In einem Interview sagte sie, dass sie nach ihrer Reise eine Weile ziemlich durcheinander gewesen sei. Nur wenigen Freunden habe sie überhaupt von ihren Erlebnissen erzählen können. Soll man es mutig finden, dass sie das Buch geschrieben hat? Vielleicht. Andererseits: Ist das überhaupt wichtig? Ändert es irgendwas an der Geschichte? An einer Geschichte, die beim Leser tatsächlich das Gefühl entstehen lässt, man sitze in einem ungebremst bergab rasenden Zug, und der große Knall sei nur eine Frage der Zeit. So gesehen ist „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ auch eine Art Thriller.
Für die scheinbar grenzenlose Freiheit, für das entspannte Kiffen, Abhängen und Rumlabern in der Fremde, für den touristischen Spaß, die Wärme der Sonne und die frische Meeresbrise zahlt die Protagonistin einen hohen Preis. Mag sein, dass einem weniger naiven Menschen bestimmte Dinge nicht passiert wären.
Ganz am Ende des Buches, auf dem Rückweg von Italien nach Österreich, wird Ulli von österreichischen Grenzbeamten aus dem Zug geholt und in die Sicherheitsverwahrung gesteckt. Ihre Eltern holen sie ab. Es hagelt Vorwürfe. Edi, die Freundin, die vor Ulli in Wien angekommen ist, hat den Eltern erzählt, Ulli habe noch länger in Italien bleiben wollen, weil es dort billigen Stoff gebe. „Sie hat gesagt, dass du Heroin spritzt und in Palermo auf den Strich gehst“, bekommt Ulli von den Eltern zu hören. Ulli kann es nicht fassen. Sie begegnet Edi, deren Namen die Erzählerin geändert hat, drei Jahre später wieder. Die flötet munter drauflos: „Wir hatten eine leiwande Zeit zusammen, gell? Ich mach jetzt eine Handelsschule, is ursuper!“ Ulli Lust notiert: „Wäre ich einem Geist begegnet, ich hätte nicht schneller das Weite gesucht.“ Wer wollte daran zweifeln?
Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 20/2010
Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.