Für immer abwesend – „Fun Home“

Weihnachten, das Fest der Liebe. Der Christbaum ist riesig. Alison und ihre zwei jüngeren Brüder – drei kleine, grob anschraffierte Figuren in Schwarzweiß mit klaren Umrissen – betrachten seine gleißend weiße Leuchtkraft, deutlich hervorgehoben durch den kühl getuschten, petroleumfarbenen Hintergrund. Obwohl sie so klein sind, ist das kindliche Staunen der drei nuanciert dargestellt. Alison Bechdel, Autorin und Zeichnerin von „Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten“, hat sie im Laufe ihrer gut 25jährigen Karriere zusehends perfektioniert: die Kunst, eine Comic-Strip-Szene mit scheinbarer Nachlässigkeit und nur wenigen Strichen zum Sprechen zu bringen.

Alison Bechdel (Autorin und Zeichnerin): „Fun Home“.
Aus dem Amerikanischen von Denis Scheck und Sabine Küchler. Carlsen, Hamburg 2014. 240 Seiten. 9,99 Euro

Rechts außen im selben Panel, eine Figur im Schattenriss – der Vater, Bruce Bechdel. Er steht „still“ da, schwarz ausgemalt, irgendwie bedrohlich. Ein distanzierter Beobachter mit verschränkten Armen und einem Sektglas in der rechten Hand. Der Mann ist ein Geheimnis, das die Künstlerin in ihrer autobiographischen Graphic Novel mit analytischer Schärfe, Liebe und Einfühlungsvermögen, einem ausgezeichneten Blick fürs Tragikomische sowie einem unleugbaren Rest an Unverständnis und Widerwillen umkreisen wird, bis es zu uns spricht. Doch bleibt diese so mächtige wie ohnmächtige Vaterfigur, die ihre Kinder in der Szene perspektivisch um das Vierfache überragt, für uns Leser ein reichlich unzugänglicher und nicht unbedingt sympathischer Protagonist. Auf gerade mal zwei Bildern des 240 Seiten dicken Buches lacht der Mann. Meistens schaut er mürrisch abweisend oder verschlossen abwesend drein.

Kinder wie Möbel behandeln

Tastend kommentiert Bechdel das Bild mit den Worten: „Manchmal, wenn alles gut lief, gefiel es meinem Vater womöglich, eine Familie zu haben. Zumindest wird ihm der Anschein des Authentischen gefallen haben, den wir seiner Inszenierung verliehen: einer Art Stilleben mit Kindern.“ An einer anderen Stelle heißt es über ihn, einen unscheinbaren Bestattungsunternehmer, Englischlehrer, großen Literaturliebhaber, vor allem aber detailversessenen Hobbyrestaurator mit Hang für mausoleumsartigen Kitsch, in dem er das Haus der Familie zu ersticken droht, nicht weniger pointiert: „Mit der Zeit ärgerte es mich, daß mein Vater seine Möbel wie Kinder und seine Kinder wie Möbel behandelte.“ Die Astrallampen, Pendulen und Hepplewhite-Stühle sind perfekt, die Kinder nicht. Bruce Bechdel ist ein Mensch der schönen Fassade. Alison wiederum vergleicht das alte restaurierte Haus im ländlichen Pennsylvania angewidert mit dem der Addams Family. Und so gruselig tot es auf die Erzählerin wirkt, so lieblos kalt scheint auch die Beziehung zwischen Mutter und Vater, die sich nur zweimal vor ihren Augen berührt haben sollen – flüchtig freundschaftlich.

Indes muss sie ihren Vater nicht „töten“, im Gegenteil. Er erledigt das selbst, läuft vermutlich mit Absicht, so die Annahme der Tochter, im Jahr 1980 vor einen Sattelschlepper. Da ist sie 19 und er gerade mal 44 Jahre alt. Eigentlich vermisste sie ihn ja bereits, als er noch da war: anwesend abwesend. Der Tod wiederum trennt und verbindet sie nachhaltig mit ihm. Auch weil sein Tod so viel mit ihr selbst zu tun hat: Vater und Tochter waren bzw. sind homosexuell. Und während wir Alison in dieser asynchron gefertigten Doppelrückschau in lakonisch klaren, bedeutungsstarken Bildern dabei begleiten, wie sie auf dem College in New York ihre frühen Ahnungen Gewissheit werden lässt und schließlich ihr Coming-out als Lesbe hat, rekonstruiert sie für uns den Tod des Vaters als möglichen Ausdruck einer radikalen Konsequenz, mit dem zermürbenden und unbefriedigenden Versteckspiel männlicher Homosexualität auf dem Land nicht länger leben zu wollen.

Bild aus „Fun Home“ (Carlsen)

Allerdings, und das trägt zur subtilen psychologischen und literarischen Größe des Buches bei, weiß sie es nicht genau und schreibt das auch. Der Tod des Vaters bleibt letztlich ein spannungsreiches Mysterium. Auch seine Liebe zu minderjährigen Jungen, den heimlichen Sex mit männlichen Babysittern und Schülern, der ihm schließlich ein Gerichtsverfahren einbringt, schildert Bechdel mit der gebotenen Behutsamkeit und Vorsicht. Genaue Rechenschaft ablegen kann man immer nur über seine eigene Geschichte. Und auch die gehört einem nicht. Vieldeutig schreibt sie: „Seine Abwesenheit erzeugt eine Strömung in der Zeit, die alles, was ich von ihm weiß, unterspült.“

Der Vater – ein Phantom

Vielleicht war der enorme Erfolg von „Fun Home“ in den USA im Jahr 2006 tatsächlich eine literarische Überraschung. Die Feuilleton-Kritiker waren jedenfalls begeistert; das Time Magazine wählte das Buch vor Richard Fords und Cormac McCarthys Romanen zum besten literarischen Titel des Jahres; 2007 gewann Bechdel dafür den Stonewall Book Award und den Lambda Literary Award. Andererseits ist sie längst keine Unbekannte mehr, eher eine Kultautorin, bekannt geworden durch eine mittlerweile in fünfzig Zeitungen abgedruckte Comicserie namens „Dykes To Watch Out For“ – eine unterhaltsam bissige Reihe über den Alltag lesbischer Freundinnen, in der sich Bechdel als zynische und schlaue Beobachterin der amerikanischen Gesellschaft erweist. Zudem erhielten zu dieser Zeit auch die Graphic Novels „Blankets“ von Craig Thompson und Marjane Satrapis „Persepolis“ höchstes Kritikerlob und erzielten stattliche Verkaufszahlen. Was wiederum mit Sujet und Form aller drei Bücher zu tun haben mag: Es sind Coming-Of-Age-Geschichten, die gewissermaßen einladen zum relativ bequemen Abgleich mit eigenen Erinnerungen. Insbesondere Nicht-Comic-Lesern dürfte das den Zugang erleichtern. Wortgewandte und dialogversierte Autoren sind die drei sowieso. Man würde ihre Geschichten vermutlich auch ohne ihre Zeichnungen und Bilder lesen wollen. Wäre dies nicht der Fall, hätten sie kaum eine Chance gehabt, Lieblinge des Feuilletons zu werden.

Die wortmächtigste, klügste, sprach- und zitatverliebteste von allen ist Bechdel. Und obwohl es mitunter ans Manierierte grenzt, wie häufig sie als Erzählerin mit Einsichten von Proust, Camus, Wilde, Colette und Joyce um sich wirft, so sehr gehört dieser offensive und akribische Umgang mit Literatur eben auch zum Leben von Vater und Tochter. Die Liebe zur Literatur stiftet ein Band zwischen den beiden, Jahre bevor sie sich gegenseitig als homosexuell erkannt haben (ohne je darüber gesprochen zu haben), was die Verbindung dann noch ein bißchen fester zurrt. Doch gerade nur so fest, wie Bruce Bechdel es zulässt. Er bleibt ein Phantom, dem Leben selbst und erst recht seiner Familie gegenüber ein Fremder. Dass die Autorin niemals tief genug zu ihm durchdringen konnte, ist traurig. Dass sie sich getraut hat, so offenherzig davon zu erzählen, war mutig und bestimmt nicht risikolos. In der Danksagung heißt es: „Dank Helen, Christian und John Bechdel dafür, dass sie mich nicht abgehalten haben, dieses Buch zu schreiben.“

Diese Kritik erschien zuerst am 26.11.2008 in: Junge Welt

Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.

Seite aus „Fun Home“ (Carlsen)