Die komplexe Geschichte der Batavia

Spannende Geschichten spannend zu erzählen ist große Kunst. Auch – oder gerade – wenn sie im Barock spielen, das man um Himmels willen nicht einfach so mit heute gleichsetzen kann. Von der Trilogie „Jeronimus“ ist nun eine Gesamtausgabe erschienen.

Nennen wir das Ding mal einen 3-teiligen historischen Psychoabenteuerthrillercomic mit allerlei kunst- und sozial- und geistesgeschichtlichen Unterböden. Man könnte es auch Graphic Novel nennen. Aber dieser Begriff ist in letzter Zeit zum Marketing-Speech für „kulturell besonders wertvoller Comic für die gebildeten Schichten, die sich ansonsten schämen, Comics zu lesen“ verkommen. Und damit eben als Qualitätsetikett per se.

Nicht, dass „Jeronimus“ keine Qualitäten hat, aber die hat er als Comic und nicht wegen seines Labels. Die drei Alben des Szenaristen Dabitch und des Zeichners Pendanx flitzen nämlich fröhlich von einer Bedeutungsebene zur nächsten, ohne dass man das zunächst bemerken würde.

Das Retourschip

Die Geschichte hat keinen sehr komplexen Plot. Im Jahre 1628 heuert der gescheiterte, vom Schicksal gebeutelte, mit „ketzerischem“ Gedankengut beladene Apotheker Jeronimus Cornelisz auf einem großen „Retourschip“ der Niederländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), der „Batavia“ an. Die Stimmung an Bord ist mies, eine Meuterei soll in dem Moment losbrechen, als die „Batavia“ in australischen Gewässern auf ein Riff läuft. Ein Teil der Passagiere und der Besatzung kommen gleich ums Leben, andere retten sich auf verschiedene flache Inselchen und fangen an, sich gegenseitig abzuschlachten. Spiritus rector dieser düsteren Entwicklung ist Jeronimus, der sich allmählich zum perfiden Inseltyrannen wandelt und es fertigbringt, für den Tod von hunderten von Menschen verantwortlich zu sein, ohne einen einzigen je eigenhändig umzubringen. Das geht so lange gut, bis am Ende auch ihn das notorische Schicksal einholt.

Seeabenteuer

Der Untergang der „Batavia“ ist nicht irgendeine Seeabenteuergeschichte. Das war sie auch schon im 17. Jahrhundert nicht. Unter dem Titel „Ongeluckige Voyagie van’t Schip Batavia Nae de Oost-Indien Gebleven op de Abrolhos van Frederick Houtman“ machte der Stoff ab 1647 als Bestseller seiner Zeit Karriere, die letztendlich bei unserem Comic endet. Dabitch & Pendanx stützen sich, was die Fakten angeht, hauptsächlich auf Mike Dashs Sachbuch „Der Untergang der Batavia“ (Batavia’s Graveyard, 2002), das 2005 auch bei uns erschienen ist. Aber eben nur auf die Fakten, wobei die beiden Comic-Künstler nicht der Naivität (auch vieler Rezensenten) aufsitzen, der Batavia-Stoff sei halt einfach mal so als „historisch“ abgesicherte Vorlage für einen Historienschmöker zu gebrauchen.

Bild aus „Jeronimus“ (Schreiber & Leser)

Im Barock sind solche Texte immer doppelt codiert: als Tatsachenbericht und, genauso, wenn nicht noch wichtiger, als Fabel. So wie alle Robinsonaden später, bis hin zu „Lord of the Flies“ und selbst noch zu „LOST“, ist das Unheil, das die „Batavia“ trifft, für alle möglichen, wenn auch keineswegs beliebigen Interpretationen offen.

Dabitch & Pendanx geben genug Hinweise, dass auch ihre Bearbeitung in ganz verschiedenen Kontexten steht und vertrackt funktioniert. Zum Beispiel die Bildebene. Die sehr moderne „filmische“ und hochflexible Anordnung der Panels, zwischen Totalen und Nahaufnahmen, Panorama-Schwenks und Tableaus, Split Screen und anderen Verfahren virtuos switchenden „Einstellungen“ revidiert die gerade in der niederländischen Malerei stattgefundene Verschiebung von „Bild“ zu „Gemälde“, wie sie der Kunsthistoriker Hans Belting in seinem Essay „Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden“ beschrieben hat.

Bilder & Gemälde

Viele einzelne Bilder jedoch sind wie Gemälde konzipiert. Vor allem im ersten Teil, in dem es um die bürgerliche „Fehl“-Entwicklung von Jeronimus in seiner Heimat Haarlem geht, hält sich Pendanx eng an Motivik und Bildaufbau Vermeers, allerdings mit einem sehr unvermeerschen sfumato, einer Stimmungslage, die sich durch alle drei Bände, mit wenigen Ausnahmen (vor allem im dritten Band, wenn es um Wasser und Himmel geht), zieht. Selbst wenn einzelne Panels manchmal deutlich auf Rembrandt van Reijn hinweisen, kommt dessen chiaroscuro selten zum Tragen, auch da dominiert das leicht verhangene, verwischte, eben „rauchige“ Lichtmilieu. Die spezifisch niederländische Malerei bleibt also als wichtiger Sinnbezug bestehen, aber eben als einzelne „Bilder“, nicht als Gemälde.

Untergang & Rettung

Das korrespondiert mit der Metapher des gescheiterten Schiffes, des Unglücks und letztendlich der Rettung – denn am Ende des dritten Teiles (das darf man schon verraten), als der Schurke Jeronimus in der Grube sitzt, naht die Rettung durch den obrigkeitlich korrekten Kommandeur der „Batavia“, der sich abgesetzt hatte, aber jetzt zurückgekehrt ist. Die Momente der Anarchie, der Gottlosigkeit, des Schändens und Vergewaltigens, des Brennens und Mordens – historisch gesehen befinden wir uns übrigens mitten im 30-jährigen Krieg und, was die Niederlande angeht, mitten im 80-jährigen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien – sind vorbei. Der moralisch ebenfalls nicht ganz reinliche Oberbefehlshaber, ein Kauf-, kein Seemann, sorgt durch korrekte Exekution des Störenfriedes für die (Wieder-)Herstellung der rechten Ordnung.

Zwiespältigkeit

Jeronimus, den wir im ersten Teil auch als Ketzer und Freigeist in den niederländischen Gesprächslaboren an der Schwelle von Späthumanismus und der ganz sachte empordämmernden Frühaufklärung kennenlernen, passt genau zur Atmosphäre der „moralischen Zwiespältigkeit großen Reichtums“, den die VOC mit unschönen Methoden erwirtschaftet und versucht, „theologisch“ zu rechtfertigen. Daraus entstehen, wie Simon Schama in seinem epochalen Buch „Überfluß und schöner Schein“ gezeigt hat, eine seltsam gedämpfte Stimmung von „Melancholie“ und „Ekel“.

Bild aus „Jeronimus“ (Schreiber & Leser)

Das ist der eine, spezifisch niederländische Komplex, der allerdings flugs zur Theodizee-Problematik des 18. Jahrhunderts führt und somit universal wird. So wie die Bildwelten unseres Comics den Bereich niederländischer Vorlagen verlassen und sich neben den (post-)modernen Panels aus allen möglichen Bildwelten der Marinemalerei und des Seestücks bedienen, bis hin zu den „Pirates of the Caribbean“ oder Peter Weirs „Master and Commander“.

Ganz sicher auf jeden Fall ist die Benutzung der Schiff-/Schiffbruch-Metaphorik universalistisch gemeint. Vom Staatsschiff (die majestätischen „Batavia“) bis zum Narrenschiff (die Flöße, Kähne und Planken der Gescheiterten): Die Zeichnungen im Comic referieren auf einschlägige Bilderwelten. Generell aus dem historischen Kontext fallen auch die Kommentare, die Autor Dabitch immer wieder einbaut. Abseits der Dialoge erzählen kleine, ästhetisch ins production design nicht „passende“, aber deswegen umso signifikantere Text-Kästchen, andere Dinge als die, die wir sehen.

Kapitalismus

Und manche Kästchen kommentieren die Handlung aus der Perspektive und in der Begrifflichkeit von heute. Das ergibt spannende Widersprüche und Reibungsmomente. Die Figur Jeronimus, so heißt es einmal, sei ja eine sehr moderne Gestalt: „Lug und Trug, Gewissenlosigkeit, hartes Durchgreifen, Rücksichtslosigkeit, Intrigieren – die charakterlichen Voraussetzungen für den Erfolg im Geschäftsleben bringt er mit. In seiner Heimat erfand man den Kapitalismus und die Börse. Die protestantische Ethik ebnete dem wertfreien Gewinnstreben den Weg … (zu) einem im Entstehen begriffenen, unmenschlichen System, in dem Zahlen mehr galten als alles andere …“ Aber zum gemeingefährlichen Inseltyrannen wird er genau wegen seines Zweifelns und Grübelns an jenen grundsätzlichen Tendenzen. Und als eben solcher Tyrann rückt er wieder in andere literarische und künstlerische Bezugsfelder, Colonel Kurtz aus „Apocalypse Now“ (vorher Joseph Conrad, klar), oder Oberlus, dem Insel-Monster, genannt der „Leguan“ bei Alberto Vázquez-Figueroa, resp. seinem literarischen Vorfahren bei Herman Melville … Dass man nebenbei noch die ganzen Bedeutungscluster, die sich aus der Südsee als topischer Ort atavistischer Grausamkeiten ergeben oder die gesammelten Topoi von der dünnen zivilisatorischen Tünche, unter der „Das Untier“ Mensch (Ulrich Horstmann) hervorspringt, auffahren könnte, das ist evident.

Ich möchte hier auch auf keinen Fall möglichst viele Sinnebenen aus einem Projekt herausfoltern, bis es quietscht, sondern eigentlich nur viel Freude bei einem sehr spannenden, manchmal erquicklich derben, immer sehr intelligenten und extrem clever gemachten Comic-Abenteuer wünschen.

Die vielen Dimensionen, Ebenen und Interpretationsangebote stecken alle im Genre. Comic oder Kriminalliteratur, Abenteuer- oder historischer Roman, Psycho- oder Politthriller, alle Möglichkeiten sind in den Texten resp. Bildern impliziert. Es geht alles, wenn man es kann. Dabitch & Pendanx können es.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 29.01.2011 auf: CulturMag

Jean-Denis Pendanx (Zeichner), Christophe Dabitch (Autor): Jeronimus. Gesamtausgabe • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 272 Seiten • Hardcover • 39,80 Euro

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.