Das bisschen Frühzeit forscht sich von allein – Ulli Lusts „Die Frau als Mensch“

Ulli Lust geht mit ihren autobiografischen Comics immer wieder an die Schmerzgrenze der Selbstbefragung und lotet die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen aus. Jetzt hat sie zum ersten Mal einen Sachcomic gezeichnet: „Die Frau als Mensch“.

Ulli Lust beginnt ihren Comic – typisch Ulli Lust – mit Alltagsbeobachtungen zum Geschlechterverhältnis: Wie sie als Kind schon gelernt hat, dass Jungs stolz ihren Penis zeigen und es als unanständig gilt, wenn Mädchen ihre Vagina zeigen. Und dass es sich nicht gehört, darüber zu sprechen. Demgegenüber stellt sie die Figuren, die aus der Frühgeschichte der Menschen gefunden wurden. Anders als in der Zeit seit der Antike bis heute, wo vor allem Abbildungen von Männern dominieren, wurden in der frühen Menschheitsgeschichte vor allem Frauen dargestellt, und zwar auf der gesamten Erde in allen Kulturen mehr als 30.000 Jahre lang.

Diese Frauenfiguren sahen überall ähnlich aus, mit ausladenden Brüsten und einer deutlich sichtbaren Vagina. Vor allem diese expliziten Darstellungen des weiblichen Geschlechts wiedersprechen all den Konventionen, die Ulli Lust und eigentlich auch wir alle in unserer Kindheit gelernt haben. Und von diesen Fundstücken ausgehend, entwickelt sie ihre eigene Theorie von der Frühgeschichte, in der die Frau das Idealbild des Menschen ist – und nicht, wie heute üblich, der Mann.

Lust nimmt die kulturellen Artefakte der Frühgesellschaft als Basis, weil die aus dieser Zeit vor allem übriggeblieben sind. Dazu zählen auch die die reich ausgestatteten Gräber. In manchen sind zum Beispiel unzählige gebrannte Tonkugeln arrangiert. Oder die Köpfe und das Becken der verbliebenen Skelette sind mit Ocker eingefärbt – ein Farbstoff, der damals aufwendig gewonnen wurde. Nach neueren Erkenntnissen sind in diesen Gräbern vor allem Frauen bestattet worden. Lust zitiert aber auch biologische Forschungsergebnisse aus der Verhaltensforschung mit Affen. Bonobos und Schimpansen sind Menschen besonders ähnlich und zeigen sehr unterschiedliches Sozialverhalten. Bei Schimpansen herrscht eher Konkurrenz und die Männchen dominieren. Bonobos hingegen sind eher kooperativ und zeigen eine leichte Dominanz der Weibchen. Und die Menschen, meint Ulli Lust, tragen beide Verhaltensmuster als Möglichkeit in sich.

Die Künstlerin zeichnet die Frühgesellschaft als eine gleichberechtigte zwischen den Geschlechtern, als eine fürsorgliche, die auch jene versorgt, die nicht so viel leisten können. Das leitet sie vor allem aus den Gräberfunden ab, in denen auch Menschen reich bestattet wurden, die z. B. ein degeneriertes Skelett hatten – solche Funde gibt es offenbar häufig. Daraus schließt Lust, dass Menschen mit Behinderung eine besondere Rolle in der Frühgesellschaft hatten, möglicherweise als Schaman*innen.

Das, was Ulli Lust als Frühgeschichte der Menschheit zeichnet, ist ganz anders, als das Klischee der Urmenschen, in denen die Männer den Ton angeben und nur die stärksten durchkommen. Aber ist es auch wissenschaftlich verbürgt? Die Archäologie ist eine Wissenschaft, die ihre Theorien auf sehr wenig Fakten stützt, weil es nur verhältnismäßig wenige Fundstücke aus der Frühzeit gibt. Und die Interpretationen, die daraus hergeleitet werden, hängen stark von der Perspektive der Forscher ab. Das zeigt Lust deutlich in ihrem Comic. Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes zum Beispiel, der zur Zeit der englischen Bürgerkriege lebte, war der Ansicht, dass Frühmenschen egoistische Subjekte gewesen seien, die ihr kurzes Leben im Kampf aller gegen aller verbrachten. Forscher des 19. Jahrhunderts beschrieben die ausladenden Geschlechtsteile der Figuren als degeneriert. Das sind Theorien, die in der Wissenschaft nicht mehr diskutiert werden, die aber immer noch das Bild der Frühzeit prägen.

Lust zeigt außerdem, wie sehr eine männerdominierte Forschung die Ergebnisse beeinflusst. Da gibt es eine indigene Gruppe in Afrika, die heute noch weitgehend unbeeinflusst von der Zivilisation lebt. Bei Feldforschungen hat man festgestellt, dass nur die Männer jagen. Als aber das erste Mal eine Forscherin zu dieser Gruppe ging und an der Jagd teilnahm, stellte sich heraus, dass auch indigene Frauen ganz selbstverständlich auf die Jagd gehen.

Ulli Lust stellt mit ihrem Comic nicht den Anspruch, die letzte Wahrheit über die Frühgesellschaft gezeichnet zu haben. Sie zeichnet eine Perspektive, die von Forscher*innen heute geteilt wird und die in der breiten Wahrnehmung bislang unterrepräsentiert ist. „Die Frau als Mensch“ ist damit ein wichtiger Baustein zeitgenössischer Sicht auf die Frühzeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 04.02.2025 auf: radio3 rbb

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Frau als Mensch“.

Ulli Lust: Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte • Reprodukt, Berlin 2025 • Hardcover • 256 Seiten • 29,80 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.