Adèle und der Fehlstart der Moderne

© Schreiber & Leser / Casterman / Tardi

Adèle Blanc-Sec ist eine Frau nach meinem Geschmack. Sie raucht, sie trinkt, sie flucht; Männern, die ihr blöd kommen, tritt sie in die Familienjuwelen; sie meidet Kirchen, Pfaffen und Weihwasser und traut sich trotzdem unter jeder Leiter durch. Leider werden wir uns nie begegnen, denn einerseits erlebte Adèle ihre ungewöhnlichen Abenteuer vor knapp einem Jahrhundert, in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg, und andererseits ist sie nur eine gezeichnete Person. Jacques Tardi hat sie sich ausgedacht. Was erwähnenswert ist, weil mein europäischer Lieblings-Comic-Künstler sonst gern mit literarischen Vorlagen oder gleich zusammen mit Literaten arbeitet. Die mittlerweile zehnbändige „Adèle“-Serie (seit Herbst 2021 erscheint eine Gesamtausgabe bei Schreiber & Leser – Anm. d. Red.) wirkt denn auch, als hätten ihr ein paar Meter der absurdesten Pulp-Fiction-Literatur mehrerer Epochen als Material gedient.

Adèle selbst nämlich verdient sich den Lebensunterhalt mit dem Verfassen von „Schundromanen“. Vielleicht ist sie nicht nur deswegen oft so denkbar schlechter Laune, weil sie die Korruption ihres Publikums nur zu genau kennt, sondern auch, weil sie an die Konstruktion des Happy-Ends nicht glaubt: die Produktion des Paares, das die Familie produziert, die die Gesellschaft produziert (die den Krieg produziert – so ist das, nicht nur bei Tardi: Nach zwanzig Jahren, das ist Adèle klar, wird der Sohn ihrer bürgerlichen Schwester reif für das nächste Gemetzel sein). Vielleicht hält sie sich auch deswegen von emotionalen Bindungen fern – schließlich hat Tardi Adèle als Gegenentwurf zu all den Comic-Heroinen gedacht, die „Vampire oder Sexobjekte“ sind. Hauptsächlich aber hat sie es mit den wild gewordenen Geheimnissen von Paris zu tun, mit Verschwörungen, Wahnsinnigen, Dämonen und wissenschaftlichen Blasen. Mit dem verkorksten Beginn der Moderne in der bürgerlichen Gesellschaft.

Sequenz aus „Adele Blanc-Sec – Sammelband I“ (Schreiber & Leser)

Jacques Tardi einen „Comic-Künstler“ zu nennen, ist ebenso richtig wie erklärungsbedürftig. Denn ein Comic-Künstler ist nicht nur jemand, der das Medium der graphischen Erzählung in den Rang einer Kunst erhebt. Es ist auch jemand, der als Künstler das Medium Comic wählt. Tardi hat nicht nur „Kunst studiert“ (genau gesagt: in den sechziger Jahren an der Ecole des Beaux-Arts in Lyon und an der Ecole nationale supérieure des arts décoratifs in Paris), er ist immer Künstler geblieben, insofern er von Anbeginn auf ein Autorensubjekt bestand und sich, anders als sein Weggefährte und zeitweiliger Ko-Autor Moebius alias Jean Giraud, einer Zweiteilung zwischen Autorencomic und graphischer Popindustrie verweigerte. Tardi könnte eine Linie auf eine Restaurantrechnung wischen, und man würde seinen Strich erkennen. Längst werden einzelne Bilder von ihm (Portfolios seiner graphischen Erzählungen ebenso wie eigenständige Gemälde) im Kunsthandel zu erklecklichen Preisen gehandelt. Daran kann man sehen, dass Comics auch eine Art und Weise sind, Kunst zu demokratisieren.

Auf der anderen Seite liebt Tardi die Zusammenarbeit mit Literaten. Er setzte Geschichten von Louis-Ferdinand Céline und Léo Malet um, und das bedeutet mehr als nur ein Illustrieren, es ist ein Weitererzählen in einem anderen Medium. Sein Erzählen kann sich sogar vom Graphischen lösen: Mit Michel Boujut realisierte Tardi zum Beispiel die Radioserie „Le Perroquet des Batignolles“. In dem graphischen Krimi „Das Geheimnis des Würgers“, der in Zusammenarbeit mit Pierre Siniac entstand, bieten die Autoren für einen Kriminalfall vier in gleicher Weise überzeugende Lösungen an. Will sagen: Tardi interessiert sich nicht nur für Atmosphäre und Drama, nicht nur für Illustration und Inszenierung, sondern auch für die Grundlagen des Erzählens. Die Bezugspunkte dafür sind Surrealismus und Anarchismus als ästhetische Gesten gegen den militaristischen und sozialen Fehlstart der Moderne (wie man ja überhaupt die „moderne Kunst“ nicht nur als dekorativen Motor der Modernisierung, sondern auch als Reflexion ihres Wahns ansehen kann).

Bild aus „Adele Blanc-Sec – Sammelband I“ (Schreiber & Leser)

Grundsätzliches zum Werk von Tardi und insbesondere zu jenen Arbeiten, die sich um den Ersten Weltkrieg drehen, habe ich ja schon gesagt (in Konkret 7/06), auch dazu, wie er in Zusammenarbeit mit dem surrealistischen Krimiautor Léo Malet eine kongeniale Umsetzung der Nestor-Burma-Detektivgeschichten schuf. Man könnte Tardi wohl als Gründer einer expressiv-realistischen Fortentwicklung der ligne claire ansehen. Was ihn interessiert, sind nicht elegante Reduzierungen, nicht jener Neo-Hergéismus, der mit der Pop Art flirtet, sondern die direkte Wiedergabe der Kraft des Augenblicks, einschließlich der grotesken Deformierungen, einschließlich Blut, Schmutz und Wahn. Als Leser der Graphic Novels von Tardi ist man ein wenig in der Situation seiner Helden: Man versucht einem Ansturm des Grauens und der Entfremdung standzuhalten, und man weiß nicht recht, ob man lachen oder sich fürchten soll. Dazu gehört die Verbindung liebevoller Details in den Dingen (niemand zeichnet Häuser, Schiffe, Uhren, Taxis so lebendig) mit einer genialen Vereinfachung der menschlichen Physiognomien: Ein Gesicht – und ich spreche von der unverwechselbaren Gegenwart eines konkreten Menschen – ersteht bei Tardi aus sieben Strichen, und der Strich hört nicht auf, ein Strich zu sein, so als würde man die Hand noch spüren, die ihn verflixt entschlossen aufs Papier brachte. Nun aber: Adèle.

Adèle lebt im Paris zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Paris der langen Schatten, der gefährlichen Seitenstraßen, der leeren Plätze, der Dachlandschaften mit giftig qualmenden Schornsteinen (Adèles Lieblingsplatz). Wundervoll öde Orte: Die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, in Form von Automobilen, Bussen, Zügen, aber auch mechanischen Fallen, geheimen Labors, der Ungleichzeitigkeit von Magie und Mechanik. Der erste Band „Adèle et la Bête“ von 1976 (Adele und das Ungeheuer, 1982) setzte die Szene für einen wunderbaren Reigen: Genau am 4. November 1911 entkommt ein 136 Millionen Jahre alter Pterodactylus (Flugsaurier), gerade aus dem Ei geschlüpft, aus dem Museum für Naturgeschichte und dient schurkischen Wissenschaftlern als Modell für eine technische Duplikation. Adèle, die gerade einen zum Tod durch die Guillotine verurteilten Räuber retten will, erscheint das Ungeheuer als einziges geeignetes Mittel zum Befreiungsschlag. Zum Diebesgut des Räubers gehört im übrigen eine Statue des – „Exorzist“-Zuschauer werden ihn kennen – mesopotamischen Teufels Pazuzu; im zweiten Band dient er als Totem einer bösen Verschwörersekte, der sogar der Justizminister höchstpersönlich angehört. Und so geht das weiter: Adèle, die eigentlich am liebsten in ihrem Bett liegt und raucht, gerät immer wieder an archaische Mythenwesen, die zu modernen Machtspielen missbraucht werden. Das ganze reichert sich ständig an: Zu immer neuen Monstern, Wahnsinnigen und Verbrechern stoßen die alten in immer absurderen Konstellationen und Situationen. Schließlich stirbt Adèle (man könnte ohnehin argwöhnen, man befände sich in einem langen Todestraum), aber sie wird von einem Wissenschaftler konserviert und wiederbelebt, nicht zufällig parallel zum Ersten Weltkrieg, den Adèle also gnädig „verschläft“.

Sequenz aus „Adele Blanc-Sec – Sammelband I“ (Schreiber & Leser)

In Band 5 ist Tardi dann auch in dieser Serie bei seinem großen Thema angelangt, dem Ersten Weltkrieg (der in den Erzählungen des Großvaters so furchtbar lebendig war). Dass Adèle den direkten Schrecken verpasst hat, macht sie nur um so empfindlicher für seine indirekten Folgen. In „Adeles ungewöhnlichen Abenteuern“ ist zu entdecken, dass alle Gespenster ihre historisch-materiellen Manifestationen haben (und doch nicht ganz in ihnen aufgehen).

„Das teuflische Labyrinth“ ist der zehnte, bislang letzte Band, der in der typischen Art der Kolportage sich in Kreisen, Wiederholungen und Variationen bewegt. Dabei sind seit dem letzten Band skandalöse zehn Jahre vergangen! Und der neunte endete zudem mit einer ganz tückischen Cliffhanger-Wendung: „Wird es Régis Fluet und Léon Dandelet gelingen, endlich Adèle Blanc-Sec umzubringen?“

Auch in den Adèle-Geschichten geht es, unter anderem, um das Erzählen selber. Sind womöglich all die Gespenster, Verschwörungen und Wahnsysteme nichts anderes als Adèles längere Gedankenspiele für ihre literarische Arbeit, oder umgekehrt, die Freisetzung ihrer literarischen Phantasien? Eine andere Erklärung wäre, dass sich die Geheimnisse von Paris ihr offenbaren, weil sie sieht, was ihre bürgerliche Umgebung nicht sehen kann oder will; das Museum und die Irrenanstalt, der Palast und der Kerker sind das nicht gebannte Unbewusste der längst nicht mehr schönen Epoche. Oder diese Phantasmen sind genau der Ausdruck von Adèles tiefer Entfremdung, ihre Zornbilder gegen Pfaffen, Bullen, Bürger und Uniformen. Und noch eine Möglichkeit: In den grotesken Mördern und Unterweltmonstern bildet sich genau dieses Bürgertum ab – mit seiner unterdrückten Gier, seinem Machtwahn, seiner Korruption, seinen unverarbeiteten Mythen und seiner erst recht nicht verarbeiteten wissenschaftlichen Aufklärung. Die Gespenster sind die Wachstumsschmerzen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Flugsaurier, die aus den Museen entkommenen Monster, sind die Überbleibsel einer vergangenen Epoche, die in der neuen, der fortschrittsgläubigen, nur einen irritierend peripheren Platz finden (also den gefährlichsten). Es ist, wie Tardis Weltkriegsgeschichten, eine Erzählung vom Untergang einer Kultur und vom Fehlstart der Moderne im Blut des Krieges und im Wahn der urbanen Legenden.

Sequenz aus „Adele Blanc-Sec – Sammelband I“ (Schreiber & Leser)

Schon in der frühen Geschichte „Der Dämon im Eis“ (1974), einer Hommage an Jules Verne, gibt es diese Figur des mad scientist. Aber anders als im angelsächsischen Popkosmos übermalt Tardi Vernes positivistischen Traum, beziehungsweise er nimmt die durchaus reichlich vorhandenen melancholischen und grotesken Züge aus seinem Werk auf. Und aus „Fantomas“ und „Arsène Lupin“ übernimmt er Verschwörungsnetz und Wiederholungszwang, um die bürgerliche Pulp Fiction an der Quelle zu vergiften.

Die „Adèle“-Bände sind auch lebende Museen: Tardi zitiert die verschiedenen Künstler der Zeit, Maler wie Alfred Kubin oder Max Klinger (Picasso wird unter anderem auf Hintern zitiert), und der poetische Realismus der vierziger Jahre scheint ebenso auf wie die Stars des französischen Kinos (Bernard Blier als Kneipenwirt). Die Sprache von Adèle und ihren Zeitgenossen ist eigentlich nicht zu übersetzen. Man muss sich ein durch Abgase, Alkohol und Anarchismus befördertes poetisches Gemümmel vorstellen, dessen Pointen bei der Übertragung in eine andere Sprache einen Gutteil ihrer Musikalität verlieren müssen (und das Deutsche ist für so etwas ohnehin nicht sonderlich begabt: umso größer die Leistung des Übersetzers Martin Budde, dem jedenfalls ein eigener Tonfall gelingt).

Die Handlung ist mittlerweile im Oktober 1923 angekommen. Ein Müllmann findet eine menschliche Hand in einer Tonne; Adèle, über den Dächern von Paris, hat zuvor von dem vielsagenden Körperteil geträumt. Und dann kehren all die Alpträume und Monster wieder zurück, aber auch die tragischen Gestalten wie der amputierte Soldat Brindavoine, und schließlich gibt es noch eine weitere Erklärung für diese Welt der Phantasmagorien: Es ist ein „pays d’alcooliques“, ein Übergang zur Moderne, der nur aufgrund einer allgemeinen Alkoholisierung (nicht unähnlich jener durch diverses Gesöff von Bier bis Calvados und eine gute Pfeife beflügelten Intuition von Jules Maigret) zu ertragen ist. Hier saufen sogar die Monster. Nun aber hat der verbrecherische Dr. Chou den Wein mit einer Substanz vergiftet, die die merkwürdigsten Mutationen hervorruft. Den Menschen wachsen Tintenfischarme aus den Ohren. Aber Chou hat es natürlich auch auf Adèle abgesehen, und er präsentiert seinen Mitverschworenen: „Nach den sieben Todsünden, sieben Kristallkugeln, sieben Zwergen, sieben Weltmeeren und sieben Fingern an einer Hand: die sieben Klone von Adèle Blanc-Sec.“ Unnütz zu sagen, dass diese Klone einigermaßen explosive (mehr oder weniger) lebende Kunstwerke sind.

Angeblich soll nach „Das teuflische Labyrinth“ der letzte Band der Serie erscheinen. Schließlich endet der zehnte Band damit, dass der Wirt im letzten Bild bereits das nächste von Adeles ungewöhnlichen Abenteuern ankündigt: „Das Baby von Buttes-Chaumont“. Und wer ist der Fremde, der da mit einer Pistole in der Hand den Raum betritt? Noch einmal, und dann keine Adèle mehr? Mais non! Das können Sie uns nicht antun, Maître Tardi!

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 12/2008

Hier gibt es eine weitere Kritik zu Tardis „Adele“-Comics.

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u. v. a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Liebe und Sex im 21. Jahrhundert; Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände); Trump! Populismus als Politik; Der Rechtsruck; Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe. Kürzlich erschien von ihm Wir Kleinbürger 4.0 bei der Edition Tiamat.

Jacques Tardi: „Adele Blanc-Sec – Sammelband I“. Schreiber & Leser, Hamburg 2021. 160 Seiten. 29,80 Euro