Max Baitingers besondere Biografien – „Sibylla“ und „Heimdall“

Ob Barockdichterin Sibylla Schwarz oder Götter der nordischen Mythologie – Max Baitingers Comicbiografien bezaubern nicht nur thematisch, sondern auch visuell.

Ob Bowie, die Beatles oder Batman-Mitschöpfer Bill Finger, ob Falco, Frida Kahlo oder Fidel Castro – um eine Comic-Biografie kommt kaum eine Berühmtheit herum, das Lesepublikum scheint danach zu verlangen, dass immer mehr Lebensbeschreibungen auch in Comicform erscheinen. Vor allem, wenn ein Jubiläum ansteht. Als sich Beethovens Geburtstag zum 250. Mal jährte, wurden gleich mehrere Comics angekündigt: Moritz Stetters „Mythos Beethoven“ (Knesebeck), Peer Meters und Rem Broos „Beethoven – Unsterbliches Genie“ (Carlsen) und die sehr empfehlenswerte Biografie über die Jugend des Künstlers „Goldjunge“ von Mikael Ross (Avant-Verlag). Max Baitinger hat sich für seine Comic-Biografie „Sybilla“ eine Berühmtheit mit einem ungleich runderen Geburtstag ausgesucht: 2021 feierte ihre Heimatstadt Greifswald den 400. Geburtstag der Dichterin Sibylla Schwarz. Gleichzeitig ist die Barockdichterin (außer in germanistischen Fachkreisen, die sich auf die Lyrik der Frühen Neuzeit spezialisiert haben) so unbekannt, dass der Comic fast wie eine Parodie auf den inflationären Biografie-Hype wirkt.

Sibylla Schwarz

Sibylla Schwarz wurde 1621 in Greifswald als Tochter des Bürgermeisters Christian Schwarz geboren und verstarb 1638 an der Ruhr. In dieser kurzen Zeit schrieb sie eine Reihe von Gedichten, die in heutigen Lyrik-Anthologien auch deshalb einen besonderen Platz einnehmen, weil die Zahl weiblicher Lyrikerinnen im 17. Jahrhundert überschaubar ist. Neben Catharina Regina von Greiffenberg ist Sibylla Schwarz trotz ihres kurzen Schaffens die wohl bekannteste Barockdichterin.

Was für eine Biografie soll das werden, die sich nicht abarbeiten muss an den vielzitierten Mythen um die zentrale Person (wie bei David Bowie) oder sich bemühen muss, einem allzu genau durchleuchteten Leben noch etwas Neues zu entlocken? Baitinger hat sich für ein Schreiben unter dem Vorzeichen des Konjunktivs entschieden: „Einen Strich in die Landschaft und behaupten … das hier sei jetzt Sybilla Schwarz: Eine große Dichterin des Barock.“ Im Modus des „als ob“ fährt Baitinger fort, schließlich ist die Quellenlage dürftig, und so nimmt er sich im Rahmen des „biografischen Pakts“ einige Freiheiten. Mit den Fakten ist er nach wenigen Seiten bereits am Ende: „Es wird ein Verein gegründet und das nächste Jubiläum abgewartet. Alles Gute zum Vierhundertsten, Sibylla! Ende der Graphic Novel!“

Und dann beginnt Baitinger von vorn. Die Farben verschwimmen auf dem Papier, wir sehen helle Lichtpunkte und verschwommene Klekse, und während die wenige Seiten zuvor verstorbene Sibylla sich aufrichtet, als ob sie ihr Jubiläum nicht verschlafen wollte, lesen wir, wie dieses Buch entstand: „Sie könnten sich das sehr gut vorstellen, schreibt mir der Sibylla Schwarz e.V.“ Vorstellungskraft brauchen fortan vor allem die Leser*innen, denn die Zeichnungen von Baitinger sind sehr reduziert, er bemüht sich nicht um detailfreudigen Realismus: Seine Figuren sind abstrahierte Krokodile, rudimentäre Hunde und Strich-Schweine. Der Einschränkung durch den Konjunktiv folgt die offene Fiktionalisierung.

Während wir in Texten, die neben den Bildern platziert sind, lesen, wie es dank der Unterstützung des (ganz und gar realen) Vereins zu diesem Comic kam, beobachten wir nicht Baitinger, sondern Sybilla, die sich allerdings verhält, wie es von Baitinger zu erwarten als Reaktion auf den Schriftwechsel mit dem Sibylla Schwarz e.V. zu erwarten wäre. Wir lesen Baitinger und sehen Schwarz – oder ist es andersherum? Wenn er uns Leser*innen die Identifikation mit der Dichterin schon nicht einfacher macht, so identifiziert er sich selbst mit ihr.

Der Verein, so fährt Baitinger fort, bemüht sich um historische Akkuratesse, gibt Hilfestellungen und Hinweise etwa zur Gestaltung des Wohnhauses, aber der Künstler macht allzu deutlich: „Ich füge nicht hinzu, dass weder dieses … noch dieses das Landhaus der Schwarzens sei. Oder dass das nicht der Greifswalder Bodden … und dies hier nicht Sibylla Schwarz … er aber durchaus eine Pfeife sei.“ Hinter dem verbalen Frontalangriff auf den architekturbeflissenen Vereinshelfer steckt eine dezent verborgene Rechtfertigung für Baitingers Ablehnung der dahinterstehenden Kunstauffassung, denn die Pfeife ist (neben der Beleidigung) eine Anspielung auf René Magrittes berühmtes Gemälde „La trahison des images“ von 1929, besser bekannt für den Schriftzug, der auf dem Ölgemälde steht: „Ceci n’est pas une pipe“ („Dies ist keine Pfeife“).

Der surrealistische Künstler René Magritte teilte das Kunstverständnis vieler seiner modernen Zeitgenossen und sah die Aufgabe von Kunst darin, nicht die Realität möglichst genau abzubilden. Kunst spiegele vielmehr die Gedankenwelt eines Künstlers wider. Sein berühmtes Pfeifengemälde mit dem geschwungenen Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“ soll die Betrachter*innen daran erinnern, dass sie eben nicht eine Pfeife vor sich haben, sondern lediglich das Abbild einer Pfeife.

Der US-amerikanische Comic-Künstler und Autor des Metacomics „Understanding Comics“ (1993, dt. „Comics richtig lesen“), Scott McCloud, griff auf dieses Gemälde in einer prominenten Passage zurück, um die Leser*innen auf die Besonderheiten des jeweiligen Mediums aufmerksam zu machen. Baitinger dekonstruiert das Leben der Sibylla Schwarz und widmet ihr doch so viel Aufmerksamkeit, dass man neugierig wird, wer sich hinter dieser Strichzeichnung verbirgt. Und da der Comic auch Auszüge ihrer Gedichte enthält, werden Neugierige sofort belohnt.

Wem das alles zu sophisticated ist, wird mit der aktuellen Diego-Maradona-Biografie (Splitter), der Charlie-Chaplin-Biografie (Knesebeck) oder der Lebensbeschreibung des Pferdes von König Ludwig II. (Rowohlt) besser beraten sein. 2020 wurde das „Sibylla“-Projekt mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.

Heimdall

Auch „Heimdall“ (Rotopol, 2023) ist eine Biografie, allerdings eine, die schon im Titel ihre Fiktionalität offen zur Schau stellt. Immerhin geht es um einen Gott aus der nordischen Mythologie, und so erlaubt der Gegenstand einige Freiheiten, die das Erzählen von Mythen natürlicherweise mit sich bringt.

Auf der ersten Doppelseite wird in die Formensprache des Comics eingeführt: „Ich bin Heimdall. Ich sehe alles.“ Und wenn wir Leser*innen dann die sehr scharfe Wahrnehmung Heimdalls in sehr stilisierter Form zu sehen bekommen, werden die markanten Formen, Bogen und Dreieck, vorgestellt. Diese werden uns durch den gesamten Comic begleiten, sei es in der Panelform oder auf der Ebene der dargestellten Welt. Und zugleich korrespondiert der Bogen wiederum mit der möglichen Etymologie von Heimdalls Namen. Dieser entstammt der nordischen Mythologie, ist ein Gott aus dem Geschlecht der Asen und wacht über die Regenbogenbrücke Bifröst, die nach Asgard, in die Heimat der Asen, führt. Er trägt ein mächtiges Horn, das „Gjallarhorn“, bei sich, mit dem er die Götter warnt, wenn der Wolf die Sonne frisst und damit die Ragnarök einläutet.

Wer die Hoffnung hat, nach der Lektüre von Baitingers „frei nach der Edda“ verfasstem Comic die nordische Mythologie partytalk-tauglich präsentieren zu können, muss enttäuscht werden. „Heimdall“ erzählt die Geschichte nicht wie eine abenteuerliche Göttergeschichte, sondern eher in Wiederholungsschleifen, die wie der Refrain eines Liedes daherkommen. In Mythen steht die Zeit still, denn das, was geschehen wird, ist schon längst vorherbestimmt, und so braucht es keine lineare Zeit. Der Kreis ist das treffende Symbol aller Mythen, sei es die griechische Götterwelt oder seien es die modernen Pop-Mythen um „Akte X“ oder „Tim und Struppi“, die keine Zeitlichkeit zu kennen scheinen. Auch „Heimdall“ kreist um das zentrale Thema der Ragnarök, wiederholt die immergleichen, vom Schicksal vorgezeichneten Abläufe gebetsmühlenhaft immer aufs Neue.

Visuell wie erzählerisch ist Baitingers Comic das Gegenmodell zu der grafisch sehr aufwendigen, mitreißenden und auf Spannung angelegten Serie von Neil Gaiman und P. Craig Russell, die aktuell in drei Bänden bei Splitter erscheint.

Bei „Heimdall“ handelt es sich um Baitingers Abschlussarbeit an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. „Heimdall“ erschien erstmals 2013 beim Kassler Verlag Rotopol und wurde soeben in zweiter Ausgabe veröffentlicht. Rotopol wurde für seine verlegerische Arbeit zum Auftakt der Mainzer Minipressen-Messe mit dem V.O.Stomps-Hauptpreis der Landeshauptstadt Mainz ausgezeichnet.

Max Baitinger: Sibylla • Reprodukt, Berlin 2021 • 176 Seiten • Hardcover • 24,00 Euro

Max Baitinger: Heimdall • Rotopol, Kassel 2023 • 48 Seiten • Hardcover • 18,00 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.