„Es gab einen enormen Mitteilungsdruck“

Florian Winter erzählt in seinem Comic-Debüt „XES“ kinetisch und aufreibend, von einem jungen Mann, der unter Sexsucht leidet, und von dem stetigen Kreislauf aus Rückfällen, Therapien, Selbsthass und Begehren. Die Graphic Novel ist eine beeindruckende Mischung aus Erfahrungsbericht, Traumtagebuch und Ratgeber. Winter findet eindringliche grafische Visualisierungen und Metaphern für seine Ängste, Selbsthass und am Ende auch für seine Zuversicht. Und so ist „XES“ nicht nur ein mutiger, seltener Einblick ins Leben mit einer stigmatisierten Krankheit, sondern eine Kontemplation über das Wesen der Sucht und unser aller Umgang mit Suchtkranken. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Lieber Florian, in wenigen Tagen wird deine Graphic Novel „XES“ im Avant-Verlag erscheinen. Kannst du uns zunächst etwas über die Ursprünge deines Buchprojekts erzählen? Wann hast du beschlossen, deine Geschichte zu erzählen? Gab es einen konkreten Anlass oder ist die Entscheidung langsam über die Zeit in dir gereift?

Die Idee zu dem Buch entstand sehr spontan beim Besuch eines Selbsthilfemeetings. Das Thema war der vierte Schritt aus dem Zwölf-Schritte-Programm. Da heißt es: „Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.“ Hier geht es darum, einmal seine ganze Suchtgeschichte zu Papier zu bringen und mit anderen zu teilen (meist mit einem Sponsor – das ist ein enger Vertrauter aus einer Gruppe). Da ich schreibfaul bin, kam mir die Idee, das zu zeichnen. Ich hatte gleich am nächsten Tag damit angefangen und wahllos drauflos gezeichnet, was mir alles in den Kopf kam. Daher kommt auch der fragmentarische Stil von „XES“. Es war dann noch viel Arbeit, das alles in eine dramaturgisch schlüssige Form zu bringen, damit andere Menschen das auch lesen.

Wie autobiografisch ist die Erzählung? Wie viel von dir steckt in „XES“?

Ich schätze mal, so 90 % sind von mir. Es gibt ein paar Situationen, die ich von anderen in Meetings gehört habe und für wichtig hielt, um ein stimmiges Bild von dieser Sucht zu zeigen. Auch die Situationen, die mir selbst passiert sind, habe ich aus dramaturgischen Gründen manchmal leicht abändern müssen. Aber so ist das ja immer, wenn etwas zu Papier gebracht wird.

„XES“ erzählt vom Leben mit der Krankheit Sexsucht, vom stetigen Ringen mit sich selbst, von Einsamkeit, von Rück- und Fortschritten. Wie würdest du die Krankheit Sexsucht für dich definieren? Welchen Einfluss hatte sie auf dein Leben? Wie und wann hast du gelernt, mit ihr umzugehen?

Weil es eine Sucht ist, kann es sehr unangenehm werden. Ann Wilson Schaefs, die sehr viel zu dem Thema geschrieben hat, geht so weit, den Tod als Endpunkt einer jeden Sucht zu definieren. Es ist sozusagen ein Selbstmord auf Raten. Bei manchen dauert es Jahrzehnte. Es ist immer ein Leidensweg. Bei mir gab es bessere und schlechtere Tage. Die Sucht war aber immer da – auch zu Zeiten, als ich sie noch nicht als solche benannt habe. Diese Erkenntnis kam erst mit Mitte 30 – und damit fing auch die Genesung durch Selbsthilfegruppen an. Meine Sucht hat mich zum Glück nie finanziell ruiniert oder kriminell werden lassen, aber sie hat meine Beziehungen ge- und zerstört. Vor allem die Beziehung zu mir selbst. Ich glaube heute, dass die Sucht meine persönliche Entwicklung stark verlangsamt hat.

Florian Winter (Autor und Zeichner): „XES“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 360 Seiten. 25 Euro

Du erzählst nicht nach einem klassischen narrativen Muster, sondern jagst deine Leser*innen regelrecht durch ein Gewirr aus Erinnerungen, Begegnungen, Träumen und Bildmetaphern für innere Zustände. Kannst du uns etwas über deinen Erzählstil verraten?

Als ich anfing zu zeichnen, gab es einen enormen Mitteilungsdruck. Ich wollte am liebsten alles an einem Tag zeichnen, aber es kam immer wieder eine neue Erinnerung. Ich hatte erst mal keine andere Wahl, als alles zu sammeln. Dramaturgie gab es am Anfang keine. Irgendwann merkte ich auch, dass lineares Erzählen auch nicht so meine Stärke ist und ich gerne metaphorisch erzähle. Dadurch entstanden die Kapitel, die zum Teil eine völlig abstruse Sicht auf die Sucht wiedergeben, wie z. B. die Gottwitze. Ich hatte das Gefühl, mich so formal intensiver an das Thema herantasten zu können. Es gibt ja die „reale“ Ebene, die durch Wiederholungen (Internet, Bordell) gekennzeichnet ist, und die „Metaebenen“, die völlig überraschend oder auch verstörend sein können.

Auch auf 360 Seiten kannst du viele Aspekte deiner Geschichte und des Themas Sexsucht nur anreißen. Wie hast du ausgewählt, welche Aspekte deiner eigenen Geschichte ins Buch Einzug halten?

Bei diesem ganzen Gewirr von Gedanken und Gefühlen war mir wichtig, dass die Leser*innen noch mitkommen. „XES“ soll zwar auch Unruhe erzeugen, aber im Rahmen des Lesbaren. Es gab viel, viel mehr Material, als jetzt drin ist. Manches verwirrte zu sehr oder machte ein neues Fass auf, das nicht geklärt werden kann. Und 1000 Seiten wollte ich nun auch nicht zeichnen. Ich betrachte „XES“ eigentlich wie einen schnell geschnittenen Film. Wenig Text, viele Bilder… Das hat letztendlich die Auswahl der Szenen definiert.

Eins der wichtigsten Themen von „XES“ ist die Verbindung zwischen Kranksein und Einsamkeit. „Sex war mir wichtiger als andere Menschen“, sagt dein Alter Ego am Anfang des Buchs in einer Therapiegruppe. Den Großteil des Buchs ist dein Protagonist allein und mit sich selbst beschäftigt, ob in der Ekstase oder der Scham danach. Was bedeutet dieser Aspekt deiner Geschichte für dich, was bedeutet er für das Buch?

Es gibt eigentlich keine Nebenhandlungen und auch kein ausgearbeitetes Szenario mit Nebendarstellern. Jede Szene kreist um Flo. Er ist immer das Zentrum. Ob Mutter, Tochter oder Geliebte… alles nur Randfiguren. Und zwar deshalb, weil sie aus Sucht-Sicht (komisches Wort) auch nur Randfiguren sind. Ich wollte nicht nur etwas Autobiographisches machen, sondern auch gewissermaßen eine Analyse über Sucht. Das Buch selbst soll in seiner Erzählweise den Prozess schildern, den ich miterlebt habe. Dafür musste ich einiges opfern, damit das Tempo des Comics erhalten bleibt.

Seite aus „XES“ (Avant-Verlag)

Sexsucht wird erst seit 2019 von der WHO als Krankheit definiert. Wie hast du von dem gesellschaftlichen Umgang mit der Krankheit vor dieser Neu-Klassifizierung erfahren, und hat sich für dich und andere Betroffene seither viel verändert?

Kein Sexsüchtiger spricht öffentlich über seine Sucht – es sei denn, es ist ein Promi, der sich fast schon wieder damit brüstet: „Seht her, ich hatte tausend Frauen und es war geil, aber jetzt erkenne ich, dass es mir nicht gut tat.“ Ha Ha… Was sich gesellschaftlich durch die WHO-Klassifizierung ändern wird, kann ich nicht absehen. Nur der Süchtige selbst kann auch sagen: Ich bin süchtig. Was nutzt einem da eine medizinische Definition? Vielleicht kann man sich schneller krankschreiben lassen? Ich weiß es nicht…

Du zeigst Flo wiederholt als Teil einer Selbsthilfegruppe, die seine Fortschritte und Abstürze begleitet. Welche Hilfsangebote gibt es für Sexsüchtige in Deutschland? Welche Rolle haben diese Organisationen und ihre Ansätze für dich und für deine Genesung gespielt?

Es gibt zwei große Gemeinschaften, die ihren Ursprung in den USA haben und sich alle von den AA (Anonyme Alkoholiker) ableiten. Einmal die AS (Anonyme Sexsüchtige) und die SLAA (Anonyme Sex- und Liebessüchtige). Es gibt noch weitere Gruppen, die sich wiederum von AS oder SLAA ableiten. In all diesen Gruppen wird nach den 12 Schritten gearbeitet. Dabei handelt es sich um ein spirituelles Programm, dessen Grundlagen die Anonymität eines jeden Einzelnen und die Annahme einer „höheren Macht“ sind. Die höhere Macht ist kein Gott im religiösen Sinne, sondern ein Hilfsmittel, um die Sucht in den Griff zu bekommen. Der Wille/das Ego allein reichen nicht, sonst könnte ja jeder Süchtige jederzeit aufhören. Dabei muss also etwas helfen, was größer ist. Die 12 Schritte kreisen um die die höhere Macht. Für manche ist die höhere Macht ein klassischer Gott, für andere das Gruppengewissen, für andere die Selbstliebe etc. Jeder hat im Prinzip eine andere Definition. Für mich ist der Begriff immer noch schwierig, weil höhere Macht nicht unbedingt auch „liebende“ höhere Macht impliziert, d. h., sie kann mich auch wieder in die Sucht führen. Die Kurzform davon ist: Wenn alles Gott ist, dann ist auch die Sucht Gott. Die Genesung findet aber auch über diese Auseinandersetzung statt. Vorher gab es ja gar keine Auseinandersetzung mit der Sucht, da war sie einfach da.

Seite aus „XES“ (Avant-Verlag)

„XES“ ist für mich ein Produkt einer höheren Macht. „XES“ ist ein wichtiger Schritt im Genesungsprozess. Dieses Buch zu veröffentlichen ist vor allem der 12. Schritt: „Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Sex- und Liebessüchtige weiterzugeben und diese Grundsätze in allen Lebenslagen anzuwenden.“

Was kann und sollte sich in Deutschland im Umgang mit dem Thema Sexsucht deiner Meinung nach noch ändern? Gibt es Vorurteile, die sich halten? Was können Bücher und Erfahrungsberichte wie „XES“ dazu beitragen?

Einerseits ist unsere Welt völlig durchsexualisiert. Irgendwie versucht uns jeder zu verkaufen, Sex sei das Wichtigste auf dieser Welt. Es gibt jetzt sogar eine Reality-Sendung, in der Mütter für ihre Kinder Pornos drehen. Unter dem Vorwand der Aufklärung ist es doch wieder nur Sensationsgeilheit. Zum anderen ist Sexualität immer noch das Schamthema Nr.1. Mit „XES“ habe ich versucht, einen sensiblen und, ja, unerotischen Beitrag zu leisten. Es gibt keine pornographischen Bilder und auch die Sprache ist „nüchtern“. Es ist ein Buch, das einen Genesungsprozess schildert.

Und zum Schluss: Weißt du noch, wie und wann dich die Liebe zum Comiczeichnen gepackt hat? Gibt es Zeichner*innen und Werke, die dich künstlerisch beeinflusst und inspiriert haben?

Ich habe immer gerne gezeichnet und noch lieber Comics gelesen. Zum Zeichnen sind mir als junger Mensch leider nie Storys eingefallen, sodass ich es aufgegeben habe. Mit 52 Jahren ein Comic-Debüt abzuliefern, ist schon spät.

Die Zeichner, die ich am tollsten finde (Moebius, Paul Chadwick, Rick Geary, Yves Chaland, Charles Burns, Masamune Shirow), haben mich stilistisch nicht besonders beeinflusst. Ich bin absolut kein akribischer Zeichner. Detailreichtum ist mir zuwider. Ich hau die Zeichnung aufs Tablett oder Papier und dann ist gut. Insofern bin ich stilistisch den typischen Witz-Cartoon-Zeichnern der 1960er und 1970er Jahre viel näher.

Seite aus „XES“ (Avant-Verlag)