Dieses jährliche rituelle Festessen mit der kollektiv in Feiererwartung verkrampften Verwandtschaft hat manchmal etwas Gruseliges, ob mit oder ohne Masken. Kai Meyer und Jana Heidersdorf haben in „Der Speichermann“ den Horror im frohen Fest entdeckt.
Kurz nach dem Tod seiner Mutter entdeckt ein sechsjähriger Junge auf einem verlassenen Dachboden zwischen Theaterkulissen, Porträtgemälden und lebensgroßen Statuen einen alten Mann, der sich in diese unbelebte Kunstwelt denkbar gut einfügt: „Ich blickte in ein Meer von Gesichtern, alle gemalt und eingerahmt, bis auf das eine.“ Das ist natürlich auch dem Knirps nicht ganz geheuer, zumal der langbärtige Fremde ihn mit Zimtschokolade zu locken versucht. Als dieser sich dann auch noch als Weihnachtsmann vorstellt, nehmen die Zweifel des kritischen Jungen überhand.
Aber natürlich wiegt die versprochene Zimtschokolade schwer, und als der vermeintliche Weihnachtsmann ihm noch mehr Schokolade verspricht, wenn der Junge als Mann wiederkäme, gelobt dieser, ihn eines Tages erneut aufzusuchen: „Zehn Jahre vergingen, ehe ich wieder an den alten Mann und seine Schokolade dachte.“Er kehrt zurück auf den Dachboden, zunächst als 16jähriger, dann als 46jähriger, dann als 66jähriger und kommt Mal um Mal mit dem „Speichermann“ ins Gespräch. Wir begleiten den Jungen im Zeitraffer durch sein Leben: Haustier – Haustier tot – Heirat – Kinder – Enkelkinder. Die letzte Begegnung wird alles verändern, und sie wird eine Erklärung (Spoiler-Alarm für alle Kinder ab 4 Jahren) sein, warum es den Weihnachtsmann nicht gibt.
Das Unheimliche hat seine Heimstatt in den Grenzräumen unserer Erfahrungswelt oder Vorstellungskraft: Der Tod lauert im Haus am See, die Hexe tief im Wald, ES in der Höhle, das Böse im Keller oder auf dem Dachboden. Für Kinder darf es auch schon einmal der Raum unter dem Bett oder hinter den Türen des Kleiderschranks sein. Kai Meyer weiß das allzu genau, als Fantasy-Autor diverser Romane („Merle und die fließende Königin“, „Frostfeuer“ etc.) und Comics („Das Fleisch der Vielen“, „Die Krone der Sterne“ etc.) ist er seit vielen Jahren außerordentlich erfolgreich.
Die Geschichte, räumt Kai Meyer selbst ein, ist sehr eng an der Kurzgeschichte „Troll Bridge“ von Neil Gaiman („Sandman“ etc.) orientiert – die übrigens auch als Comic, gezeichnet von Colleen Doran, bei Dark Horse vorliegt. Dort trifft ein siebenjähriger Junge, Jack, auf einer Brücke (in einem Wald natürlich) einen hungrigen Troll. Er verschont Jack, weil dieser verspricht, als Erwachsener später zurückzukommen und dem Troll dann mehr Futter bieten zu können. Diese Brücke, zu der Jack als Erwachsener mehrfach zurückkehrt, wird Jack nun sein Leben lang begleiten. Neil Gaiman hat eine fesselnde Kurzgeschichte über Vergänglichkeit und Schuld geschrieben.
„Der Speichermann“ ist zunächst einmal vor allem wegen der wundervoll-schaurigen Zeichnungen der Berliner Künstlerin Jana Heidersdorf interessant. Die Sterbeszene der Mutter zeigt, wie sie geschickt Text und Bild miteinander arrangiert: „Ich war sechs, und meine Mutter starb nach dem Abendessen. Alle beteuerten, sie sei ohne Schmerzen gestorben. Aber ich wusste, dass sie logen. Der Arzt hatte gesagt, ein Krebs hätte meine Mutter getötet. Keiner konnte mir erzählen, dass sowas nicht wehtat.“ In der Kurzgeschichte, die im Anhang des Comics abgedruckt ist, beschreibt Meyer die Vorstellungswelt des Kindes, das imaginiert, wie der Krebs „mit seinen roten Scheren durch ihren Körper säbelte“. Der Comic kürzt den Text und übersetzt mit großem Geschick ins Bild, was die Erzählung mit Worten leisten wollte. Heidersdorf setzt den Krebs prominent ins Bild und verbindet das Bild der Mutter mit dem ‚Tod über dem Teller‘, indem sie die Mutter wie in Scherben zerspringen lässt.
An dieser Szene zeigt sich, wie die Comic-Debütantin Heidersdorf mit dem Text umgeht. Bei der Adaption habe Heidersdorf, so Meyer im Interview für „Multimania“, völlig freie Hand gehabt: „Im Grunde war es keine echte Zusammenarbeit im Sinne eines ständigen Hin und Her. Jana hat völlig selbstständig gearbeitet, ohne dass ich mich eingemischt hätte.“Unabhängig von der Optik kann die Geschichte, die Meyer Mitte der 1990er für eine Weihnachts-Anthologie verfasste, aber nicht vollends überzeugen. Es sind gar nicht die leichten Unstimmigkeiten des rückblickenden Erzählers, der sich in einem Moment an etwas erinnert, was er im nächsten Augenblick widerspruchsvoll wieder vergisst, sondern die flachen Figuren ohne biografische oder psychische Tiefe. Oder besser: die eine Figur. Denn außer dem 6- bis 66jährigen gibt es keine anderen Handlungsträger, die in irgendeiner Art greifbar würden, und auch der Held der Geschichte bleibt ohne jede Tiefe: Das Leben ist in groben Zügen nur holzschnittartig nachgezeichnet, und die Gefühlswelt des regungslosen Mannes beschränkt sich auf seine Vergesslichkeit, weil er stets vergisst, dass auf dem Dachboden der Weihnachtsmann auf ihn wartet.
Dem Helden aus „Troll Bridge“ konnte man mit Empathie begegnen, weil sein leidvolles Leben ihn sehr anschaulich machte. Gaimans Original ließ sich als vieldeutiges Märchen mit Freude lesen und interpretieren, aber „Der Speichermann“ hinterlässt einen beinahe ratlos, weil er kaum mehr zu sein scheint als eine Erzählung über den Verbleib des Weihnachtsmanns. Die Weihnachtsmannfrage aber ist wissenschaftlich längst geklärt, und so bleibt nur zu hoffen, dass wir von Jana Heidersmann ein weiteres Comic-Projekt erwarten können. Das wäre nämlich in jedem Jahr ein gutes Weihnachtsgeschenk.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.