Der Geist des Nationalsozialismus

Es ist die tragische Geschichte eines jungen Mannes, der keinen Kriegsdienst mit der Waffe leisten wollte. In der BRD der 70er war diese Verweigerung zwar grundgesetzlich verankert, aber das Gewissen wurde in einem erniedrigenden Verfahren geprüft. So erging es Herrmann, dem Onkel der Hamburger Comiczeichnerin Hannah Brinkmann: „Als ich dann erfahren habe, was Kriegsdienstverweigerer in Deutschland in dieser Zeit durchstehen mussten, um anerkannt zu werden, da wurde mir klar, dass Herrmanns Geschichte nicht nur eine persönliche Geschichte ist – keine Geschichte, die nur meine Familie betrifft, sondern ein Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte.“

Hannah Brinkmann hat viel mit der Familie über ihren Onkel Herrmann gesprochen. Sie zeichnet von ihm das Bild eines Menschen, der schon als Kind kein Cowboy mit Pistole sein wollte und die Jagd des Vaters verabscheute. Nach der Schule hätte Herrmann zum Beispiel nach Berlin gehen können, wo die Wehrpflicht ausgesetzt ist – wie so viele andere auch, die nicht zur Bundeswehr wollen.

Hannah Brinkmann (Autorin und Zeichnerin): „Gegen mein Gewissen“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten. 30 Euro

Herrmann: „Kann ja alles sein, aber ich will trotzdem verweigern, ich will ein Zeichen setzen. Ich schiebe keine verlogenen Ausreden vor, ich bin kein Feigling!“

Zermürbende Gewissensbefragung

Die Kommission, die sein Gewissen prüfen soll, besteht aus Männern, die im 2. Weltkrieg gedient haben. Die Bilder, die Hannah Brinkmann zu der zermürbenden Befragung zeichnet, wirken surrealistisch und sind immer wieder von Körperteilen und Organen durchsetzt, so als würde sich Herrmanns Innerstes nach außen stülpen.

„Ich ziehe viel Inspiration aus der Malerei, zum Beispiel um den Effekt zu kreieren, dass etwas nicht stimmt, das der seelische Zustand nach außen getragen wird, der Mensch umgestülpt wird. Da habe ich beispielsweise viele Malereien von Frida Kahlo, Magritte oder Neo Rauch angeguckt.“

Und: Hannah Brinkmann fängt mit ihren Zeichnungen den Stil der unterschiedlichen Zeiten ein: beklemmend sauber und adrett wirken die 50er Jahre, als Herrmann ein Kind war. Geradezu schrill kommen dagegen die 70er Jahre daher: mit großen, bunten Blumenmustern auf den Bettbezügen und Plattencovern von Roxy Musik und David Bowie. Allerdings schiebt sich immer wieder der Stil der 50 Jahre ins Bild. Die strenge dieses Stils wird siegen, zumindest in Herrmanns Leben.

Herrmann: „Ich habe solche Angst, ich schlafe nicht mehr. Ich habe ununterbrochen das Gefühl, ich muss mich übergeben.“

Tragischer Ausweg

Seine Verweigerung wird nicht anerkannt, er muss zur Bundeswehr. Aus dieser Zeit gibt es kaum Bilder im Comic, denn Herrmann hat nicht darüber gesprochen, wie es ihm dort ging. Während eines Wehrurlaubs bringt er sich um. „Erst als meine Großmutter gestorben ist, da war ich 14, habe ich Herrmanns Todesanzeige das erste Mal in Händen gehalten. Und die listet halt sehr detailliert Herrmanns Lebensdaten auf. Und damals habe ich mich erst mal gefragt, was das überhaupt bedeutet, weil ich vorher nie von Kriegsdienstverweigerern gehört hatte.“

Die Todesanzeige war für die gerade mal 30-jährige Hannah Brinkmann der Anlass für die Recherche über ihren Onkel. Im Comic kommt sie am Schluss – und setzt zugleich einen neuen Anfang: Denn die Todesanzeige der Familie formuliert so klar eine Schuld der Bundeswehr, dass es einen Skandal gibt. Und ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, dass die Gewissensprüfung von Kriegsdienstverweigerern für ungeeignet erklärt.

„Ich hoffe, dass das Buch vielleicht dazu beiträgt, dass in meiner Generation ein Bewusstsein für das Thema entsteht. Weil die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt, und es wird immer wieder darüber diskutiert, ob man die nicht vielleicht wieder einführen soll und dass es nicht selbstverständlich ist, das wir heute keine Wehrpflicht mehr haben, sondern dass Opfer dafür erbracht wurden und die Generation vor uns dieses Recht erkämpft haben.“

Der Comic „Gegen mein Gewissen“ ist eine Anklage, eine Zustandsbeschreibung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die noch so sehr vom Geist des Nationalsozialismus geprägt war. Fazit: Eindrucksvoll!

Dieser Text erschien zuerst am 06.11.2020 in: Deutschlandfunk

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)