„Er lebte in zwei verschiedenen Welten“

Heute feiern wir den 200. Geburtstag eines der wichtigsten deutschen Gesellschaftstheoretiker und eines Vordenkers der modernen Sozialdemokratie: Friedrich Engels. Bedingungsloses Grundeinkommen, verpflichtende Bürgerversicherung, Globalisierungskritik und nachhaltige Warenwirtschaft – die Ideen, die Friedrich Engels vor knapp zwei Jahrhunderten formulierte, sind heute so relevant wie nie. Trotzdem kennt man Friederich Engels vor allem als Kompagnon und Finanzier von Karl Marx, auch wenn sich Engels als Theoretiker lange vor Marx mit der Bedetung von Ökonomie für die Entwicklung der Gesellschaft in Westeuropa und dem Rest der Welt auseinandergesetzt hat. Für einen ersten Zugang zum Leben und Wirken von Friedrich Engels, sei die Graphic Novel „Engels – Unternehmer und Revolutionär“ empfohlen, die sich mit dem Werdegang und vor allem den Widersprüchen im Leben Engels‘ beschäftigt (hier unsere Kurzkritik). Der Mühlheimer Comickünstler Christoph Heuer und sein Co-Autor, der Wuppertaler Journalist Fabian W. W. Mauruschat, spüren den zwei Leben von Friedrich Engels nach: Unternehmer, Börsenspekulant und Revolutionär in einem. Wie ging das zusammen? Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung der Edition 52.

Lieber Christoph, danke, dass du dir für das Gespräch Zeit nimmst. Könntest du uns eingangs verraten, wie du auf den Comic gekommen bist? Wie bist du auf den Comic aufmerksam geworden? Und was reizt dich als Künstler und Erzähler an dem Medium?

Ich habe erst Bauzeichner gelernt, später dann noch Bauwesen studiert und unterrichte auch seit 1996 in dem Fach. Den Comic habe ich zum ersten Mal bei einem Kurztrip nach Paris im Jahre 1988 wahrgenommen. Am Boulevard St. Michel gab es einen riesigen Comicladen. Eigentlich wollte ich dort nur eine Postkarte bezahlen und kam dann drei Tage nicht mehr raus aus dem Laden. Die hatten Tausende von Comics über das ganz normale Leben. Das fand ich spannend. Einfache Geschichten erzählen, die Leser eine andere Welt und ihre Bewohner erfahren zu lassen. Das hat mich damals fasziniert und tut es bis heute.

Wie kam es zu dem „Engels“-Projekt? Was hat dich daran gereizt, dich diesem Thema zu widmen? Und wie lief die Zusammenarbeit mit Szenarist Fabian Mauruschat ab?

Das Projekt entstand bei einem Brainstorming auf der Rückfahrt von Xanten vor über fünf Jahren. Ein Jahr zuvor hatte ich zusammen mit der Archäologen Christian Golueke den Familienführer für den dortigen Archäologischen Park produziert. Die Museumspädagogin kannte meine erste Graphic Novel „Der Erste Frühling“ (2007, Carlsen Verlag) und hätte gerne etwas ähnliches zum Bataveraufstand gemacht. Doch passte das nicht in die neue Ausrichtung des Parks. Frisch gescheitert diskutierten Uwe und ich dann über andere Themen. Da Uwe aus Wuppertal stammt, lag Engels, der dort ja 1820 geboren wurde, für ihn nahe. Ich wusste wenig über ihn, aber fand die Idee doch spannend.

Fabian kam durch Vermittlung von Uwe ins Projekt. Das war eigentlich schon nach etwa einem Jahr. Ich hatte mich in die Bio von Engels eingelesen und fand sie dramaturgisch sehr problematisch. Denn sein Leben verlief, abgesehen von wenigen, sehr dramatischen Abschnitten, wie das fast normale Leben eines Bourgeois des 19. Jahrhundert. Gleichzeitig lebte er in mehreren Parallelwelten. Sein Haupttätigkeitsfeld war aber immer der Schreibtisch. Sein Werk kann man in Gänze nur begreifen, wenn man seine Motivation kennt, nämlich das Leben der arbeitenden Klasse aus eigener Anschauung. Diese Stränge zu sortieren und miteinander zu verbinden, hätte ich, falls überhaupt, nur durch einen tiefen Griff in die Klischeekiste hinbekommen. So brachte Uwe den Fabian ein. Da wir beide tief in andere Projekte eingebunden waren, lief die Zusammenarbeit am Anfang schleppend. Nachdem wir Ende 2018 erste Ansätze gemeinsam erarbeitet hatten, lief es gut. Ab etwa Mai letzten Jahres, als wir sogar eine Förderung der Stadt Wuppertal im Rahmen des geplanten Engelsjahres bekamen und unsere anderen Tätigkeiten uns mehr Raum ließen, arbeiteten wir dann wie beim Ping-Pong: Wir spielten uns die Bälle zu. Fabian hatte einen ersten Entwurf fürs Szenario und ich zeichnete ein Storyboard. Das sah er sich durch und ich passte es an. Es kam auch vor, dass ich seine Szenen erweiterte oder kürzte. Am Ende waren wir ein echtes Team.

Christoph Heuer (Zeichnungen und Szenario), Fabian W. W. Mauruschat (Szenario), Uwe Garske (Szenario): „Engels – Unternehmer & Revolutionär“.
Edition 52, Wuppertal 2020. 156 Seiten. 18 Euro

Welchen Bezug hattest du zu Friedrich Engels, bevor du dich daranmachtest, sein Leben zu zeichnen? Und was hast du im Laufe der Recherchen über ihn gelernt?

Ich wusste genau so viel wie der durchschnittliche im Westen aufgewachsene Mensch meiner Altersklasse über ihn. Nämlich fast nichts. Selbst in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern des Design-Studiums (Soziologie, Kommunikationswissenschaft usw.) kam nur Marx vor. Im Laufe der Recherche habe ich zunächst gelernt, dass Engels mehr als nur der „andere“ war. Primär ist er ja bekannt als Finanzier seines Freundes, dem er ja auch ein standesgemäßes Auskommen sicherte (immerhin war das der Frau Marx sehr wichtig – als geborene von Westphalen). Das doch sehr umfangreiche eigene Schaffen habe ich mir erst im Laufe der Zeit erarbeitet. Überrascht hat mich vor allem, wie fundiert seine Analysen der wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge waren. Und dass er im Gegensatz zu Marx wirklich in die Welt der Arbeiter eingetaucht war. Und dass er ein begeisterter Sänger irischer Volkslieder war…

Die Ambivalenz, die Friedrich Engels umgibt, trägt das Buch schon im Untertitel: „Unternehmer und Revolutionär“. Wie ließen sich diese zwei Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Schaffens vereinbaren?

Gar nicht! Er lebte in zwei verschiedenen Welten parallel! Er war als Unternehmer ein rücksichtsloser Ausbeuter so wie fast alle anderen auch! Nur für die Kinder seiner Vorarbeiter ließ er gute Schulausbildungen springen. Er war auch erfolgreicher Börsenspekulant. Mit seinen Gewinnen finanzierte er die sozialistische Bewegung rund um den Globus und sich, Marx und den seinen ein finanziell sorgenfreies Leben. Er hoffte zwar bei jedem Börsenkrach darauf, dass das System in sich zusammenbrechen würde, aber es tat es nicht.

Diese nicht nur scheinbaren Widersprüche kann und darf man nicht trennen. Sie bestimmten das Wesen von Engels: auf der einen Seite der enorm erfolgreiche Unternehmer, der mit 50 in den Ruhestand ging, und auf der anderen Seite der Sozialrevolutionär, der er bis zum Ende blieb. Das konnte man so nicht im Zusammenhang erzählen. So kam Fabian auf die nonlineare Dramaturgie, in der wir von seinen zwei verschiedenen Seiten, und wie sie sich gegenseitig bedingten, erzählen.

Seite aus „Engels – Unternehmer und Revolutionär“ (Edition 52)

Welche Relevanz haben Engels und seine Schriften für uns heute? Und wie würdest du seine Bedeutung im Vergleich und in Abgrenzung zu Karl Marx, in dessen Schatten Engels stand und steht, definieren?

Engels als Kenner der radikalen Formen einer Marktwirtschaft hat sehr wohl Relevanz bis heute. Das System, das er 1843/44 in der „Lage der arbeitenden Klasse“ beschrieb, existiert doch heute noch genauso. Nicht nur in England, sondern, wie er es voraussah, überall dort, wo man es zulässt! Man schaue nur nach Pakistan, Bangladesch und Indonesien. Wenn es wirklich Stress mit den aufbegehrenden Arbeitern gibt, dann kommt doch das Militär oder auch die Religion. In Europa war nicht zuletzt das Gespenst des Kommunismus einer der Gründe, warum die industrialisierten Nationalstaaten des 19. Jahrhundert Sozialreformen durchsetzten. Ein anderer war, und der begünstigte auch den Abbau der Kinderarbeit, dass die Bedienung von Maschinen zu kompliziert wurde, um von ungelernten Arbeitern erledigt zu werden. Also überboten sich (zumindest in den Industrien des Ruhrgebiets) die Fabrikanten darin, soziale Leistungen für ihre Mitarbeiter anzubieten. Auf einem Niveau, über das wir heute vielleicht müde lächeln, aber immerhin. Eine wichtige Erkenntnis, die Engels in seiner Lehre in Bremen machte, war die Internationalisierung von Arbeits- und Handlungsprozessen. Marx formte daraus, dass der Arbeiter kein Vaterland habe. Nun, der Arbeiter hat eins, die Arbeit aber ist da zu Hause, wo sie am billigsten ist.

Marx war ein Theoretiker, Engels ein Praktiker, dessen Einfluss auf „Das Kapital“ nicht zu unterschätzen ist. Auch darüber hinaus sind seine Schriften ein Fundament der modernen Soziologie und einer der Pfeiler der Sozialdemokratie.

Und auch als Unternehmer war Engels ein role model. Ein Unternehmer, der nicht weniger Staat und noch weniger Steuern fordert, sondern die unternehmerischen Verantwortung für die gerechte Gesellschaft sah, die der Staat durch eine angemessene Fiskalpolitik auch durchzusetzen hatte.

Woran arbeitest du gerade? Ist schon die nächste Graphic Novel von dir in der Mache?

Ich habe jüngst ein Corona-Stipendium des Landes NRW für eine Graphic Novel erhalten. Der Arbeitstitel: „Der Ausflug“. Hier geht es um den Besuch Adolph Menzels auf den Schlachtfeldern des Krieges von 1866. Auf das Thema kam ich vor sechs Jahren, als ich mit James Gurney und dem in Berlin arbeitenden Zeichner Christian Schlierkamp an deren Buch über das zeichnerische Werk Menzels arbeitete.

Seite aus „Engels – Unternehmer und Revolutionär“ (Edition 52)