„Dass wir heute keine Wehrpflicht mehr haben, ist nicht selbstverständlich, die Generationen vor uns haben uns dieses Recht erkämpft“

„Gegen mein Gewissen“ lautet das Comic-Debüt von Hannah Brinkmann, das sich mit deutscher Nachkriegsgeschichte anhand einer persönlichen Schicksals beschäftigt. Die Illustratorin Hannah Brinkmann spürt der Lebensgeschichte ihres Onkels Hermann Brinkmann nach, der 1973 als überzeugter Pazifist in die Bundeswehr eingezogen wurde und sich nach mehreren abgelehnten Verweigungsversuchen während der Grundausbildung das Leben nahm. Der Fall löste ein breites mediales Echo und eine Debatte über die gefürchtete „Gewissensprüfung“ aus. Wir päsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Liebe Hannah, „Gegen mein Gewissen“ ist als Masterarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg entstanden, wo renommierte Comickünstler*innen wie Anke Feuchtenberger, Birgit Weyhe oder Sascha Hommer seit Jahren das Comicerzählen unterrichten. Bevor wir uns über dein Debüt selbst unterhalten, würde mich interessieren, wie du als Künstlerin auf den Comic gekommen bist. Warst du schon vor deinem Studium am Comic interessiert? Und inwieweit hat dein HAW-Studium deinen Zugang zum Comicerzählen geprägt?

Ich komme eigentlich aus der Malerei. Aber als Kind und als Teenager habe ich viel geschrieben. Das Schreiben, das Erzählen von Geschichten war immer Teil meiner Identität. Angefangen mit Pixie-Büchern für meine Geschwister bis hin zu einem Coming-of-Age-Roman, den ich mit 15 schrieb und der, Gott sei Dank, in irgendeiner Schublade verschwunden ist. Die Pixie-Bücher habe ich auch selber illustriert und auch Geschichten gezeichnet, aber ich glaube, fast alle Kinder erzählen sich Geschichten beim Zeichnen.

Mit 16 habe ich dann mit der Ölmalerei angefangen und nach dem Abitur auch ein Semester Malerei in München studiert, bevor ich das abbrach und dann an der HAW anfing, Illustration zu studieren. Zum Comic bin ich dann über eine Klasse bei Anke Feuchtenberger im 3. Semester gekommen und das hat auf einmal sehr viel Sinn gemacht. Ich konnte das Erzählerische und das Zeichnerische/Malerische verbinden.

Ich habe zwar als Kind Comics gelesen, aber nur die Klassiker, Tim und Struppi, Asterix und Obelix. Meine tollen Kommilitonen haben mir dann massenweise Comics empfohlen, die ich mir aus der Bibliothek auslieh oder selber anschaffte – Künstler wie David B., Art Spiegelmann, Daniel Clowes, Chris Ware, Julie Doucet, Geneviève Castrée und viele mehr. Da eröffneten sich mir ganz neue Welten.

Einer der wichtigsten Kurse in meiner Zeit an der HAW war Dramaturgie mit Birgit Weyhe – da habe ich so viel über das Erzählen gelernt. Aber auch die ganzen Zeichen-Kurse zu Beginn meines Studiums. Ich musste ja das Zeichnen erst mal neu lernen. Da hat es mir sehr geholfen die Grundlagen beigebracht zu bekommen, aber auch mich auszuprobieren in analogen Techniken wie Siebdruck oder Ätzradierung, Bleistift, Kohle oder Tusche, um zu schauen, wo meine Fähigkeiten eigentlich liegen und wie ich sie am besten zu Papier bringen kann.

Hannah Brinkmann (Autorin und Zeichnerin): „Gegen mein Gewissen“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten. 30 Euro

„Gegen mein Gewissen“ ist eine sehr persönliche und gleichzeitig eine sehr universelle Erzählung über ein gesamtes politisches System. Wie kam es zu der Entscheidung, dass du das Schicksal von deinem Onkel Herrmann Brinkmann als Comic erzählen wolltest? Wie lange begleitet dich schon seine Geschichte und was bedeutet sie dir?

Ich bin 1990 geboren, ich habe Hermann also selber nicht kennenlernen dürfen. Trotzdem war er in der Familie immer auf irgendeine Weise präsent. Ich wusste, dass er Suizid begangen hatte und das hat mich natürlich als Kind in gewisser Weise fasziniert und beschäftigt. Erst als meine Großmutter starb, da war ich 14, fand ich in ihrem Nachlass Hermanns Todesanzeige, die ja sehr genau und detailliert Hermanns letzte Lebensdaten auflistet. Damals habe ich mich erst mal gefragt, was das überhaupt bedeutet, ich hatte vorher noch nie von Kriegsdienstverweigerern gehört. Aber ich glaube, da habe ich auch das erste Mal verstanden, dass mich diese Geschichte begleiten wird.

Die Entscheidung, ein Buch aus Hermanns Geschichte zu machen, entstand aber erst viel später, während meines Studiums an der HAW. Als ich mich dann mit den politischen Dimensionen auseinandersetzte und erfahren habe, was Kriegsdienstverweigerer in Deutschland in dieser Zeit durchmachen mussten, um anerkannt zu werden. Da wurde mir dann klar, dass Hermanns Gesichte nicht nur eine persönliche, Geschichte ist, die unsere Familie betrifft, sondern für einen Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte und das Schicksal so vieler junger Männer, die durch das Anerkennungsverfahren schikaniert und gedemütigt wurden, steht.

Ich habe dann Anfang 2016 angefangen, an der Geschichte zu arbeiten. Es hat dann aber noch lange gedauert, bis ich an einen Punkt gekommen bin, wo ich mir sicher war, genug recherchiert zu haben, genug Informationen gesammelt zu haben, um Hermanns Geschichte wirklich zu erzählen. Ab Ende 2018 habe ich mich dann ausschließlich der Ausarbeitung des Comics gewidmet und alle Nebenprojekte ruhen lassen.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Als eine Art Epilog in „Gegen dein Gewissen“ erzählst du von ersten Gesprächen mit deinem Vater über dein Buchprojekt und den Reaktionen deiner Familie auf deine Fragen bezüglich Hermanns Geschichte. Kannst du uns etwas über die Recherche innerhalb deiner eigenen Familie erzählen? Wie standen dein Vater und seine Geschwister zu deinem Projekt?

Die Familie ist sehr groß – Hermann hatte acht Geschwister – und der Umgang mit Hermanns Geschichte war, glaube ich, bei allen etwas unterschiedlich. Von einem Onkel weiß ich, dass er mit seinen Töchtern viel darüber gesprochen hat – mein Vater zum Beispiel hat eher wenig über die Ereignisse um Hermanns Selbstmord geredet, er hat es wahrscheinlich einfach anders verarbeitet.

Wie ja auch im Buch geschildert, war es natürlich am Anfang so, dass da traumatische Erlebnisse wieder hervorgeholt wurden – doch während der Arbeit an dem Buch hat mein Vater zum Beispiel immer mehr verstanden, welche politischen Dimensionen Hermanns Geschichte gehabt hat und warum es wichtig ist, sie heute erneut zu erzählen.

Doch obwohl Hermanns Geschichte sehr politisch ist, ist sie für meine Familie, vor allem für die, die damals dabei waren, eben auch eine sehr private Geschichte, die von ihrer Trauer, ihrem Verlust und einem traumatischen Ereignis in ihrem Leben erzählt. Auch wenn die Familie sich nach Hermanns Suizid entschied, mit der Todesanzeige an die Öffentlichkeit zu gehen und sie in der FAZ und der Nordwest-Zeitung zu veröffentlichen, ist es natürlich schmerzhaft, sich nach so langer Zeit erneut mit Hermanns Schicksal auseinandersetzen zu müssen.

Ich habe im Zuge der Arbeit an dem Buch aber sehr viel Unterstützung aus der Familie bekommen. Meine Tante hat mir alte Dokumente wie Zeitungsartikel, die sie kopiert hatte, zur Verfügung gestellt, einige Tanten und Onkel haben mit mir ihre Erinnerungen geteilt. Das war sehr hilfreich. Und nach der ersten Unruhe über die Tatsache, dass ich nun diese alte Geschichte ausgrabe und neu erzähle, hat mich die Familie mit viel Vertrauen einfach daran arbeiten lasse. Dafür bin ich dankbar.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Parallel zu der Recherche innerhalb deiner eigenen Familie hast du dich viel mit der Geschichte Nachkriegsdeutschlands beschäftigt, vor allem mit den Aspekten der Wiederaufrüstung und der Kriegsdienstverweigerung. Hermanns Geschichte spielt Anfang der 1970er. Welche gesellschaftliche Rolle spielte zu diesem Zeitpunkt die Bundeswehr? Welche Möglichkeiten standen jungen Männern offen, die nicht eingezogen werden wollten, und welche Konsequenzen mussten sie für ihren Widerstand gegen den Kriegsdienst fürchten?

Im Jahr 1973, als Hermann den Kriegsdienst verweigerte, gingen mehr als 32.000 Anträge zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ein. Die Anerkennungsquote war weniger als 50 Prozent, Kriegsdienstverweigerer wurden als „Drückeberger“ diffamiert und die Verweigerung als „systemzersetzend“ angesehen. Schon bei der Gründung der Bundesrepublik gab es viele Politiker, die gegen die Etablierung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung waren und eine laxe Haltung gegenüber der Kriegsdienstverweigerung von Seiten der Bundesrepublik als „Selbstmord der Nation“ (Richard Jaeger, CDU) bezeichneten. Diese Einstellung prägte die Nachkriegsjahre.

1961 wurde zwar ein Wehrersatzdienst eingeführt, der war aber als Abschreckungsdienst gedacht und unterstand damals noch dem Bundesverteidigungsministerium. Genau wie die Durchführung der Anerkennungsverfahren. Zivildienstleistende hatten es teilweise schwer, wurden von Vorsitzenden schikaniert und hatten mit autoritären Strukturen zu kämpfen. Verweigerte ein Wehrpflichtiger sowohl den Zivildienst als auch den Dienst in der Truppe, so galt er als Totalverweigerer und musste mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Amnesty International sah Kriegsdienstverweigerer in der BRD zu dieser Zeit als politisch Verfolgte an und war aktiv involviert in die Verteidigung ihrer Rechte. Da viele Kriegsdienstverweigerer trotz eines laufenden Verfahrens in die Bundeswehr eingezogen wurden, wurden viele von ihnen während der Ableistung des Wehrdiensts zu „Befehlsverweigerern“. Wenn ein Kriegsdienstverweigerer beispielsweise nicht auf Pappkameraden schießen wollte, während er gezwungen wurde, die Grundausbildung abzuleisten, war das Befehlsverweigerung und ihm drohte eine Gefängnisstrafe.

Hinzu kam, dass die Strukturen in der Bundeswehr extrem anachronistisch waren. Viele hochrangige Offiziere aus der NS-Zeit konnten durch die Amnestie-Verfahren der BRD zurück in ihre alten Posten – zahlreiche rechte Skandale in der Bundeswehr während der 60er und 70er Jahre rückten das ans Licht. Kriegsdienstverweigerer wurden in der Bundeswehr oft schikaniert – viele von ihnen waren Kinder ihrer Generation, pazifistisch, sensibel für gesellschaftliche Missstände, politisch eher links eingestellt, oft hatten sie lange Haare und entsprachen so gar nicht dem propagierten Männlichkeitskult in den Streitkräften.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Heutzutage wird das Thema Wehrdienst vielen jungen Leuten schon sehr abstrakt vorkommen. Eine ganze Generation wächst schon ohne Wehrdienst auf. Trotzdem ist das Thema nicht komplett aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, wie man jüngst an den Äußerungen der SPD-Politikerin Eva Högl gesehen hat. Welche Bedeutung hat die Geschichte Hermanns und dein Buch für uns heute?

Ich hoffe, dass in meiner Generation und in den Generationen nach mir, die momentan nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert werden, dennoch ein Bewusstsein für das Thema entsteht. Die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt, immer wieder kommt das Thema der Wiedereinführung hoch – als junger Mensch muss man darauf vorbereitet sein, was die Wehrpflicht für den Einzelnen bedeuten kann. Dass wir heute keine Wehrpflicht mehr haben, ist nicht selbstverständlich, es wurden Opfer dafür gebracht, die Generationen vor uns haben uns dieses Recht erkämpft.

Übrigens gibt es auch heute noch die Gewissensprüfung – Soldatinnen und Soldaten berufen sich immer noch auf Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes und müssen in mündlichen Verfahren ihre Gewissensnot beweisen. Nur die Hälfte von ihnen wird anerkannt. Auch im Ausland werden Kriegsdienstverweigerer bis heute verfolgt, eingesperrt oder müssen fliehen. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kriegsdienstverweigerung seit 2011 als Menschenrecht anerkennt, sehen deutsche Gerichte die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung nicht als Asylgrund an.

Die fehlende Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern ist ein Problem, unter dem viele junge Männer und Frauen in anderen Ländern bis heute leiden. Sie werden dort dazu gezwungen, einen Dienst an der Waffe abzuleisten, obwohl dieser Dienst gegen ihre moralische, politische, ethische oder seelische Überzeugung steht. Mir ist wichtig, dass ein Bewusstsein geschaffen wird für ein Grundrecht, das im Falle meines Onkels und tausender deutscher Kriegsdienstverweigerer mit Füßen getreten wurde, und das auch heute noch viel zu oft nicht gewährt wird.

Im Zentrum deiner Erzählung und in dem tragischen Schicksal von Herrmann steht die berüchtigte Gewissensprüfung, die als eine Art moral-philosophische Fallgrube dargestellt wird, aus der es für die Verweigerer keinen wirklichen Ausweg gibt. Kannst du uns etwas über die Geschichte und die Funktionsweise der Gewissensprüfung erzählen? Welche Rolle spielt dieses Verfahren in deinem Buch?

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Das Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer, die sogenannte Gewissenprüfung, fand vor einem Ausschuss im Kreiswehrersatzamt statt. Es gab drei Instanzen, den Prüfungsausschuss, die Prüfungskammer und zum Schluss das Verwaltungsgerichtsverfahren, das allerdings meist so weit nach hinten geschoben wurde, dass viele nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer zumindest die Grundausbildung, wenn nicht die gesamte Wehrpflicht ableisten mussten, bevor sie mit ihrem Gesuch vor das Verwaltungsgericht ziehen konnten. Denn wenn die Kriegsdienstverweigerer durch die Prüfungsausschüsse und -kammern nicht anerkannt wurden, durften sie rechtlich zum Wehrdienst eingezogen werden.

Die Vorsitzenden in den Prüfungskammern und Prüfungsausschüssen waren oft ehemalige Militärs, da das Verfahren dem Bundesverteidigungsministerium unterstellt war. Die Kriegsdienstverweigerer beriefen sich im Prüfungsverfahren auf Artikel 4 Absatz 3 GG: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Während dieser Prüfungsverfahren musste der Kriegsdienstverweigerer beweisen, dass seine Gewissensentscheidung glaubwürdig ist – also beweisen, was er denkt. Das bedeutete auch, dass die Urteile der Vorsitzenden und Beisitzer komplett willkürlich ausfielen – je nachdem, wer den Vorsitz innehielt und wie man persönlich der Kriegsdienstverweigerung gegenüber eingestellt war.

Nicht zuletzt waren die Konfliktfragen eine berüchtigte und gefürchtete Praxis während dieser Verfahren. Sie sind darauf zugeschnitten, den Verweigerer scheitern zu lassen. So zum Beispiel: „Würden Sie ein Flugzeug abschießen, von dem Sie wissen, dass es seine Bombenlast über einer Stadt abwerfen wird?“ Man konnte auf diese Fragen keine richtige oder falsche Antwort geben. Egal wie der Antragsteller antwortete, die Antwort konnte gegen ihn ausgelegt werden. Verweigerte er die Antwort der Frage, so konnte auch das als „ausweichendes Verhalten“ gegen ihn verwendet werden.

Es war für mich einer der wichtigsten Punkte in der Arbeit an „Gegen mein Gewissen“, darzustellen, was während diesen Gewissenprüfungen passiert ist. Ich wollte, dass im Buch aufgezeigt wird, welchem Stress, welcher Demütigung und welcher Schikane die Kriegsdienstverweigerer hier ausgesetzt waren.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Dort wo Herrmann, während er bei der Gewissensprüfung in die Mangel genommen wird, die Worte versagen, findest du abstrakte Traum- und Albtraumbilder, die Hermanns Innenleben und seine Gewissensnot, die ihm die Kommission nicht glauben will, illustriert. Könntest du uns etwas über diese Technik erzählen?

Hermann wurde in Geschichten und Anekdoten von der Familie oft als „Träumer“ bezeichnet. Für mich ist das eine wichtige Charakterisierung Hermanns. Deshalb begleiten in „Gegen mein Gewissen“ Hermanns „Träumereien“ oder „Phantastereien“ ihn von Anfang an. Immer wieder öffnet sich so seine Gedankenwelt. Während der Gewissensprüfung schleichen sich Hermanns Träume dann immer wieder in den sterilen, abweisend wirkenden Verhandlungsraum, bis sie ihn komplett einnehmen – damit wollte ich Hermanns geistigen Zustand und seine wachsende Hilflosigkeit verbildlichen. In dem kargen Verhandlungsraum beginnen Hermanns Gefühle und Gedanken das Geschehen zu überlagern. Seine Unsicherheit und sein „Bauchkribbeln“ werden durch zellähnliche Stoffe und Strukturen dargestellt, inspiriert von alten botanischen und medizinischen Illustrationen. Angst, Depressionen, Verzweiflung – all das sind neuronale Prozesse. Ihre Effekte sind im Körper spürbar, wir alle kennen sie. Deshalb habe ich mich viel mit der Anatomie des Menschen und der Visualisierung dieser Prozesse in der Biologie, der Chemie oder der Neurowissenschaften beschäftigt und das als Inspiration genommen, Hermanns Geisteszustand spürbar zu machen.

Im Buch beschäftigt sich Hermann mit dem Präservieren von Insekten. Als er sich während der Verhandlung ganz einem traumähnlichen Zustand hingibt, holen ihn die Insekten ein. Er fragt sich, ob sein Gewissen wirklich rein sein kann. Er beginnt an sich zu zweifeln. Am Ende der Verhandlung resigniert er, erschöpft durch die Gewissens-Inquisition, wie schon so viele Verweigerer vor und nach ihm. Das Bild des Ertrinkenden beschreibt schließlich, dass er einer mächtigeren Kraft komplett ausgeliefert ist. Die Unterwasserwelt soll hier eine bedrohliche Wirkung haben, indem sie aus dem Kontext gerückt wird, soll sie Hermanns Gefühl der Befremdung und der Ohnmacht untermauern.

Ästhetische Inspiration kam auch aus der Malerei – zum Beispiel von Frida Kahlo, Magritte oder Neo Rauch. Um den Effekt zu kreieren, dass etwas nicht stimmt, dass ein seelischer Zustand nach außen getragen wird, der Mensch quasi umgestülpt wird, habe ich mir viele Malereien dieser Künstler angeschaut.

Seite aus „Gegen mein Gewissen“ (Avant-Verlag)

Was Hermann wirklich in der Bundeswehr widerfuhr, war beinahe unmöglich herauszufinden. In einer früheren Version von „Gegen mein Gewissen“ beschrieb ich die Zeit in der Bundeswehr zeichnerisch sehr detailliert. Da ich jedoch nie einen Fuß in eine Kaserne gesetzt habe – die Kaserne, in der Hermann die Grundausbildung gemacht hatte, ist heute eine Hochsicherheitskaserne und für die Öffentlichkeit nicht zugängig -, war es sehr schwer Hermanns Zeit in der Bundeswehr „glaubwürdig“ zu rekonstruieren.

Die Bundeswehr stellt unter dem Titel Classix alte Lehrfilme ins Internet. Ich suchte mir den Lehrfilm „Partner im Gefecht“ aus – ein Lehrfilm über den Panzer „Leopard“. Die benutzen Zitate stammen aus diesem Lehrfilm von 1974. Auch die Bilder sind von den Aufnahmen aus diesem Lehrfilm und anderen, ähnlich strukturierten Lehrfilmen aus dieser Zeit inspiriert – aber so abstrahiert, dass sie eine dystopische Ästhetik annehmen. Die rot-weißen Strahlen im Hintergrund dieser Szene sind eine Hommage an den Film „2001 – A Space Odyssee“ und besonders an die Titelmusik „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss. Ich habe mir beim Zeichnen dieses Lied als Hintergrundmusik für die Szene vorgestellt. Insgesamt ist es mir wichtig gewesen, dass man Hermanns Geisteszustand verfolgen kann, dass man weiß, wo er sich gerade seelisch und mental befindet, wie seine Gedanken aussehen. Je hoffnungsloser Hermanns Situation, desto düsterer wird auch sein Innenleben. Ich wollte, dass man versteht, wie seine endgültige Entscheidung in ihm herangereift ist und dass man ihn auf diesem Weg begleiten kann.

„Gegen mein Gewissen“ wurde in den Monaten des Lockdowns und der grassierenden Corona-Pandemie fertiggestellt. Spürst du die Auswirkungen von Covid-19 auf dein Leben und deine Arbeit als Illustratorin? Wie zuversichtlich blickst du in die nahe und ferne Zukunft? Und wie kann man dich und andere Künstler*innen in dieser Zeit unterstützen?

Natürlich sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Kulturbereich immens. Viele Kultureinrichtungen mussten schließen, temporär, aber auch einige ganz. Während des ersten Lockdowns war es mir besonders wichtig die lokalen Kultureinrichtungen zu unterstützen. Zum Beispiel Bücher direkt vom Lieblingsbuchladen zu bestellen (bei mir „Strips & Stories“ in der Wohlwillstraße in Hamburg) oder Zines, Drucke und Produkte von Künstlern, Illustratoren und Kollektiven online zu kaufen oder an das Lieblingskino oder Theater zu spenden, sofern finanzielle machbar.

Ich hatte im Endeffekt Glück, während des ersten Lockdowns dieses große Projekt fertigstellen zu können, denn so habe ich nicht viel von der Außenwelt mitbekommen und hätte mich auch ohne Lockdown wahrscheinlich zu Hause verbarrikadiert. Aber vielen anderen Kunst- und Kulturschaffenden ging das nicht so, besonders im Theaterbereich oder in Community-orientierter Kunst mussten viele Abstriche gemacht werden. Zur Veröffentlichung von „Gegen mein Gewissen“ wurde meine Lesung und Buch-Release auch abgesagt, was natürlich schade ist, aber sehr verständlich hinsichtlich der aktuellen Lage.

Insgesamt hoffe ich einfach, dass, nachdem diese Krise überstanden ist, alle Menschen doppelt und dreifach so viele Kulturveranstaltungen wahrnehmen wie vorher. In der Zwischenzeit kann man zum Beispiel Bücher kaufen! Und zwar nicht auf Amazon, sondern bei der Buchhandlung um die Ecke oder direkt beim Verlag.